Der große, böse Wolf
Schnecke
1. Der große,böse Wolf
In einem fremden, großen Land lebte einmal ein Wolf. Er nannte sich selbst "Großer, böser Wolf", denn einen Namen hatte er nicht, er hatte nie jemanden gekannt, der ihm einen Namen gegeben hätte.
Er lebte allein in den großen Wäldern und auf den weiten Ebenen seines Landes, und nur selten begegnete er einem anderen Tier. Wenn es aber doch einmal geschah, daß ihm ein Fuchs oder ein Hirsch begegnete, dann sträubte er sein struppiges Fell, fletschte die Zähne und knurrte: "Komm mir nicht zu nahe, sonst beiße ich Dich... ich bin der große, böse Wolf!" Und die anderen Tiere fürchteten sich vor ihm und ergriffen die Flucht.
So streifte denn der Wolf tagein, tagaus durch das Land, in dem er lebte, vertrieb jeden Eindringling aus seinem Revier und hätte eigentlich recht zufrieden sein können mit seinem Leben. Er liebte das Rauschen der Tannen in den Wäldern und das Flüstern des Grases auf den Ebenen, wenn der Wind darüber hinwegstrich. Er liebte das Murmeln des Baches und die Stille der Berge, die sein Revier begrenzten.
Und dennoch fehlte ihm etwas. Er wusste nicht, was es war, und es war niemand da, der es ihm hätte sagen können. Von Tag zu Tag lief er unruhiger durch die Wälder und über die Ebenen und hoffte, daß er so finden könnte, was er suchte und von dem er nicht wusste, was es war. In den Nächten stieg er auf die Berge und klagte und heulte dem Mond seinen unerklärlichen Kummer zu.
Der Wolf hoffte, daß ihm sein Land helfen würde und ihm die Antwort auf seine Frage geben könnte. Deshalb ging er in die Wälder zu den Tannen, deren eindrucksvollem Rauschen er so oft gelauscht hatte. Er fragte sie: "Wißt ihr, was mir fehlt?" Aber die Tannen sangen weiter ihr ewiges Lied, als hätten sie seine Frage nicht gehört. Der Wolf dachte bei sich, daß die Tannen wohl zu hoch seien, um seine Frage zu verstehen. Also lief er auf die Ebenen und fragte das Gras: "Weißt du, was mir fehlt?" Aber auch das Gras wollte nicht antworten, es flüsterte weiter im Spiel mit dem Wind. Der Wolf war enttäuscht, aber er wollte die Suche nicht aufgeben, also lief er zum Bach und stellte diesem seine Frage: "Weißt du, was mir fehlt?" Der Bach murmelte weiter, so wie er es Tag und Nacht tat, auch hier bekam der Wolf keine Antwort. Er dachte: "Ich werde die Berge fragen, die sind immer so still und nicht mit Rauschen, Flüstern oder Murmeln beschäftigt. Die werden Zeit haben, mir meine Frage zu beantworten."
Er lief, so schnell er konnte, zu den Bergen und stieg auf den höchsten von ihnen. Um ganz sicher zu sein, daß sie seine Frage verstehen würden, rief er seine Frage so laut er konnte: "Wißt ihr, was mir fehlt?"
Und er erschrak, als von allen Seiten zurückkam: "...was mir fehlt....mir fehlt...fehlt..." - "Nun, wenigstens sprechen die Berge", dachte der Wolf, "ich werde meine Frage noch einmal stellen". Und wieder rief er ganz laut: "Wißt ihr, was mir fehlt?" Und ebenso laut kam das Echo zurück. Ihm war, als wollten die Berge ihn verspotten! Als er begriff, daß er auch von den Bergen keine Antwort bekommen würde, wurde der Wolf sehr traurig. Erschöpft legte er sich auf dem Gipfel des Berges nieder, bettete seinen Kopf zwischen die Pfoten und begann zu weinen.
2. Die Schlange Zissi
Plötzlich hörte der Wolf neben sich eine leise, zischelnde Stimme: "Bist du es, der diesen Krach macht? Du hast mich aufgeweckt!" Erschreckt sprang unser Wolf auf alle Viere, aber schnell hatte er sich gefasst, sträubte wie gewohnt sein Fell, fletschte die Zähne und knurrte: "Komm mir nicht zu nahe, sonst beiße ich dich!"
Wie verblüfft war er aber, als er ein leises Lachen zur Antwort bekam! Die zischelnde Stimme sagte: "Ich habe keine Angst vor dir. Du wirst mich nicht beißen." Sehr verunsichert fragte der Wolf: "Wer bist du denn?"
"Ich bin Zissi, die Schlange. Und wer bist du?"
"Ich bin der große, böse Wolf!"
Erneutes Lachen war die Antwort. "Daß du ein Wolf bist, sehe ich. Ich möchte wissen, wie du heißt. Hast du keinen Namen?" Der Wolf schüttelte verwundert den Kopf. "Einen Namen? Wie bekommt man so etwas?" Nun war es an Zissi, erstaunt zu sein. Sie fragte: "Du weißt nicht, wie man einen Namen bekommt? Nun, ich will versuchen, es dir zu erklären. Einen Namen bekommt man von jemanden, er einen liebt. Ein Name ist etwas, was dir allein gehört. Jeder bekommt einen Namen, denn wie sollte man sonst wissen, ob man gemeint ist, wenn jemand stattdessen nur "Wolf" oder "Schlange" ruft? Es gibt schließlich viele Wölfe und viele Schlangen!"
Verständnislos sah der Wolf Zissi an. Dann murmelte er: "Seltsam. Wer sollte mich ansprechen? Vor dir hat noch nie jemand gewagt, mich anzusprechen. Ich bin ganz allein, es gibt niemanden, der mir einen Namen gegeben hat." Betroffen fragte Zissi: "Hast du deshalb geweint?" Verlegen schüttelte der Wolf den Kopf. "Nein, nicht deshalb. Es ist nur so, daß mir etwas fehlt. Aber ich weiß nicht, was es ist. Und niemand will es mir sagen, nicht die Tannen, nicht das Gras, auch nicht der Bach. Und die Berge haben nur gespottet und meine Frage zurückgeworfen. Deshalb habe ich geweint."
Zissi sah den Wolf mitfühlend an, dann schüttelte sie den Kopf. "Weißt du denn nicht, daß die Tannen, das Gras, der Bach und die Berge nicht sprechen können? Aber ich werde dir sagen, was dir fehlt."
"Du weißt es?" fragte der Wolf und begann vor Aufregung, wild mit seinem buschigen Schwanz zu wedeln. "Nichts einfacher als das", zischelte die Schlange. "Was dir fehlt, ist ein Freund. Du bist einsam. Ein Freund würde dich trösten, wenn du traurig bist und mit dir lachen, wenn du dich freust. Er würde dich lieben und mit dir sprechen. Ein Freund würde dich bei deinem Namen nennen und immer da sein, wenn du ihn brauchst."
Lange Zeit saß der Wolf still und dachte über das Gehörte nach. Er spürte tief in seinem Innern, daß Zissi recht hatte, doch konnte er sich auf die ganze Sache keinen Reim machen. Jemand sollte ihn lieben? Ihn trösten und mit ihm lachen? Warum sollte das jemand tun? Er war doch der große, böse Wolf, dem niemand zu nahe kommen durfte!
Hilflos sah er Zissi an und fragte: "Ich verstehe nicht. Wo bekommt man einen Freund her? Was muß ich da tun? Willst du mein Freund sein?" Zischelnd lachte die Schlange: "Weißt du, wie du einen Freund bekommst und was du da tun musst - das mußt du schon selbst herausfinden. Ich kann nicht dein Freund sein, dazu sind wir allzu verschieden. Aber ich will dir einen Rat geben: Geh´auf die Suche nach jemandem, der dir ein echter Freund sein kann. Und noch etwas: Mach denen, die dir begegnen, nicht immer gleich Angst. Sei etwas freundlicher, dann wirst du das finden, was du suchst. Viel Glück dabei!" Blitzschnell war Zissi verschwunden.
3. Die Entscheidung
"Halt, geh doch nicht weg!" rief der Wolf, aber es war zu spät. Zissi war verschwunden. Benommen starrte er auf die Stelle, wo er die Schlange noch vor wenigen Augenblicken gesehen hatte. In ihm herrschte ein Tumult an widersprüchlichen Empfindungen. Er versuchte vergeblich, Klarheit in seine verwirrten Gedanken zu bringen. Unser Wolf spürte ganz deutlich, daß Zissi mit allem, was sie gesagt hatte, die Wahrheit gesprochen hatte. Er fragte sich aber, ob das, was er erfahren hatte, durchführbar sei. Vielleicht war es ja nur für Schlangen richtig? Was, wenn ein Wolf für Freundschaften nicht geschaffen war? Wie sollte er das herausfinden? Und - wie sollte er einen Freund finden? Wenn er wirklich einmal einen Freund finden sollte: war das nicht gefährlich? Er müsse freundlich sein, hatte Zissi gesagt. Das bedeutete, daß er die anderen Tiere nicht mehr in die Flucht schlagen durfte, es dulden musste, daß sie ihm nahe kamen. Eine große Angst befiel ihn, aber in gleichem Maße, in dem seine Angst stieg, wuchs auch jenes Gefühl, das die Schlange als "einsam" bezeichnet hatte.
Der Wolf beschloß, zunächst einmal die ganze Angelegenheit zu überschlafen. Vielleicht würde ihm ja der nächste Tag eine Lösung bringen. So legte er sich hin, und es dauerte nicht lange, da war er in einen unruhigen Schlaf gefallen. Wirre Träume suchten ihn heim. Er sah sich umgeben von allen Tieren, denen er je in seinem Leben begegnet war, und er fragte sie alle: "Wer will mein Freund sein?" Aber alle Tiere sprangen auf und flohen vor ihm. Dann sah er, wie ein großes, vielarmiges Tier zu ihm sagte: "Ich will dein Freund sein!" Es nahm ihn liebevoll in seine langen, kräftigen Arme, was dem Wolf zuerst ganz gut gefiel, bis er merkte, wie dieses Tier seine Arme immer enger um ihn schlang, bis er keine Luft mehr bekam. Zitternd und mit rasendem Herzen erwachte er.
Der Wolf fand, daß ein Freund wohl doch zu gefährlich sein würde und beschloß deshalb, weiterhin allein zu bleiben. Doch als die Sonne aufging und die Berge in ein rotgoldenes Licht tauchte, fühlte er plötzlich eine unerwartete Zuversicht in sich aufsteigen. Ein wunderbarer Friede breitete sich in ihm aus und ihm war, als würde die junge Morgensonne ihm zuraunen: "Geh auf die Suche, Wolf, finde einen Freund! Das Glück, das dadurch finden wirst, wird dich für alle Angst und Gefahren entschädigen. Nur wer wagt, kann auch gewinnen!"
Still saß der Wolf da und genoß das neue, zuversichtliche Gefühl. Jetzt war er entschlossen, die Suche nach einem Freund zu wagen und sich den Gefahren, die ihm dabei begegnen mochten, zu stellen.
4. Die Suche
Nach einer Weile sprang der Wolf auf, er fühlte sich so stark wie noch nie. Er wusste nun, was er tun würde. Er würde sein Land durchqueren, die Grenzen, die sein Revier markierten, überschreiten und versuchen, in der Fremde einen Freund zu finden. Zuversichtlich machte er sich auf den Weg. Er rief den Bergen, den Tannen, dem Gras und dem Bach sein Lebewohl zu und lief dann eilig geradeaus los. Als er nach einigen Tagen die Grenzen seines Reviers erreichte, zögerte er noch einmal, fühlte wieder die Angst in sich aufsteigen. Er blickte zurück und murmelte: "Ich werde dich vermissen, mein Land! Aber ich will einen Freund finden und muß jetzt fort von dir! Leb wohl!" Beherzt schluckte er die aufsteigenden Tränen hinunter und lief dann zielstrebig weiter.
Und wieder lief er viele Tage geradeaus, kam durch Schluchten und Täler, durchlief weite Ebenen, kletterte über riesige Gebirge und durchschwamm breite Flüsse. Jedem Tier, dem er begegnete, stellte er seine Frage: "Willst du mein Freund sein?" Oft flohen die Tiere vor ihm. Darüber war der Wolf traurig. Andere Tiere aber hörten ihm zu. So zum Beispiel der Adler. Als der hörte, was der Wolf suchte, antwortete er: "Ich kann keinen Freund gebrauchen, der nicht mit mir durch die Lüfte fliegen kann. Aber suche nur weiter, du wirst sicher jemanden finden, der zu dir passt!" Und mit einem lauten, stolzen Schrei erhob er sich in die Lüfte.
Ein andermal begegnete dem Wolf an einem großen Fluß ein Lachs. Als der Wolf ihn fragte: "Willst du mein Freund sein?" begann der Lachs zu lachen und antwortete: "Weißt du, ich habe sehr viele Freunde, die wie ich die Gewässer durchstreifen und mit mir die Flüsse hinaufwandern. Aber du würdest im Wasser ertrinken. Nein! Such dir lieber einen Freund, der besser zu dir passt als ich!"
Weiter zog der Wolf, besessen von dem Wunsch, einen Freund zu finden. Auf einem sehr hohen Berg traf er auf einen Steinbock. Auf die Frage des Wolfes, ob er nicht sein Freund sein wolle, sah dieser den Wolf lange an. Dann sagte er: "Was sollte ich wohl mit einem Freund anfangen, der nicht mit mir die Berge erklimmen und über Felshänge springen kann?" Und hocherhobenen Hauptes wandte er sich ab.
Der Wolf wurde immer trauriger und mutloser. Er fragte sich, ob es denn nirgendwo auf der Welt einen Freund für ihn gäbe? Dennoch beschloß er, nicht aufzugeben und seine Suche fortzusetzen. Und er suchte weiter, Tage, Wochen, Monate lang. Er traf auf Tiere, die er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Ameisen und Tiger waren darunter, ebenso Flamingos, Frösche, Nasenbären und Fledermäuse. Und sie alle fragte der Wolf, ob sie nicht seine Freunde werden wollten. Aber alle lehnten ab. Der Elefant fand, er sei zu groß für den Wolf, er würde ihn vielleicht aus Versehen zertreten. Der Affe wollte keinen Freund, der nicht mit ihm auf Bäume klettern konnte. Das Krokodil wollte den ganzen Tag im Schlamm liegen und konnte dabei keine Gesellschaft brauchen. Der Wal lebte im tiefen Ozean und konnte den Wolf dorthin nicht mitnehmen. Der Pinguin fand, daß der Wolf nicht elegant genug für eine Freundschaft mit ihm sei. Und der Seehund hielt sich am liebsten auf Eisschollen auf, was dem Wolf entschieden zu kalt war. So fand jedes Tier einen Grund, der eine Freundschaft mit dem Wolf unmöglich machte. Alle wünschten dem Wolf zwar viel Glück, aber ihm bei der Suche helfen mochte niemand.
So wurde der Wolf immer verzweifelter. Eines Abends, als er sich erschöpft niedergelegt hatte und sich die wundgelaufenen Pfoten leckte, war er so erschöpft und mutlos, daß er zu weinen begann und dachte: "Alle Tiere, denen ich begegnet bin, habe einen Grund, warum sie nicht mit mir zusammen sein wollen. Es scheint, als sei ich zu nichts nütze, ich kann nicht fliegen wie ein Vogel, ich kann nicht schwimmen wie der Lachs, und auf den Felsen herumspringen wie ein Steinbock kann ich auch nicht. Ich bin für niemanden gut genug! Gibt es denn keinen, für den ich genau richtig bin?"
In diesem Augenblick bemerkte er ein zartes, durchsichtiges Licht im Geäst des Baumes, unter dem er lag. Als er genauer hinsah, entdeckte er ein zierliches, kleines Wesen mit leuchtenden blauen Augen und langen, silbernem Haar. Der Wolf war so bezaubert von der Schönheit dieses Wesens, daß er es nur gebannt anstarrte, ohne sich zu rühren. Erst als es sich bewegte und freundlich zu ihm herablächelte, wagte er zu sprechen. Ganz leise, um das Wesen nicht zu erschrecken, fragte er: "Du bist so schön! Wer bist du?" Eine zarte Stimme, die wie Silberglöckchen klang, antwortete ihm: "Ich bin Lunia, die Mondfee."
5. Lunia
"Mondfee?" wiederholte der Wolf verwirrt. Milde lächelte sie ihn an. "Du hast geweint. Ich kenne deinen Kummer, du suchst einen Freund. Ich werde Dir helfen."
Der Wolf war so benommen, daß er nicht antworten konnte. Sie wollte ihm helfen? Er hatte so lange gesucht, ohne Erfolg zu haben, und sie versprach ihm Hilfe, als sei das die einfachste Sache der Welt?
Unser Wolf hatte noch nie von Feen gehört und konnte deshalb nicht wissen, daß Feen mehr können als jedes Tier.
Wieder lächelte Lunia. "Du bist misstrauisch und hast Angst. Du fragst dich, wie ich dir helfen könnte. Ich werde es dir sagen: Glaube daran, daß du einen Freund finden wirst, und vertraue mir."
Etwas so Sonderbares hatte der Wolf noch nie gehört. Aber in seinem Wolfsherzen spürte er, daß die Fee gut war. Sie würde ihr Wort halten und ihm helfen, wenn er auch keine Vorstellung hatte, wie sie das anstellen wollte. Stumm nickte er deshalb. Lunia neigte zufrieden den Kopf. "Gut", sagte sie mit ihrer Glöckchenstimme, "du wirst deinen Freund finden, wenn du bereit bist. Bis jetzt hast du am falschen Ort gesucht. Geh wieder in dein Land zurück. Dort werde ich auf dich warten." Kaum hatte die Fee ausgesprochen, da war sie auch schon verschwunden.
6. Die Heimkehr
Der Wolf war sehr verstört, die verschiedensten Gefühle stürmten auf ihn ein. Da war dieses Misstrauen in ihm, daß sich die Fee am Ende nur lustig über ihn machen würde. Und diese Verzweiflung! All sein Suchen, die wundgelaufenen Pfoten, die fortwährenden Enttäuschungen und das Heimweh - all das sollte umsonst gewesen sein? Er wollte es nicht glauben. Und dennoch - die Fee hatte so wundervoll gesprochen, seine Hoffnung, doch noch einen Freund zu finden, war stark wie nie zuvor. Er beschloß, daß er nun ohnehin nicht mehr viel zu verlieren habe und er deshalb auf die Fee hören könnte. Wenn das Ganze sich dann doch als Irrtum herausstellen sollte - nun, dann hatte er es wenigstens versucht. Zuversichtlich legte er sich nieder und fiel sogleich in einen tiefen, traumlosen Schlaf, aus dem er nach langer Zeit zum ersten Mal wieder erfrischt aufwachte.
Alsbald machte er sich auf den Heimweg und die Vorfreude, sein Land bald wiederzusehen, ließ ihn rasch und stetig vorankommen. Und nach vielen mühsamen Wandertagen erreichte er wieder die Grenzen seines Reviers. Seine Freude, als er sein Land endlich wieder sah, war riesengroß. Der Wolf sammelte seine letzten Kräfte und lief los, seine Wälder, seine grasbedeckten Ebenen, den Bach und die Berge zu begrüßen. Wie sehr er das alles vermisst hatte, wurde ihm erst jetzt so richtig bewusst. Als er seinen Rundgang beendet hatte, fiel er am Fuß eines Berges in einen erschöpften Schlaf, aus dem er erst nach mehreren Tagen wieder erwachte. Und er träumte den längsten und wundersamsten Traum, den je ein Wolf geträumt hat.
7. Der Traum
"Hallo Wolf!" rief eine glöckchenhelle Stimme, "ich freue mich, daß du mir vertraut hast und heimgekehrt bist!" - "Lunia! Ich freue mich auch, dich wiederzusehen! Ja, ich habe dir vertraut, obwohl es mir schwerfiel! Wie willst du mir helfen, einen Freund zu finden? Willst du dieser Freund sein?" Silberhelles Lachen antwortete auf die Frage des Wolfes. Dann wiederholte Lunia: "Ich werde dir helfen, einen Freund zu finden. Aber alles zu seiner Zeit! Jetzt will ich lieber ein wenig plaudern mit dir. Zum Beispiel weiß ich noch immer nicht deinen Namen. Sag ihn mir bitte."
"Ich habe keinen Namen," entgegnete der Wolf betrübt. "Es ist niemand da, der mir einen Namen gegeben hat. Kannst du mir nicht einen Namen geben? Ich möchte so gern einen Namen haben!"
Die Mondfee schwieg eine Weile, dann fragte sie nachdenklich: "Warum möchtest du, daß ich dir gebe, was du dir auch selbst geben kannst?" Der Wolf war verblüfft. Was sagte Lunia da? Aber sie sprach schon weiter: "Welchen Namen hättest du denn gerne?" Ratlos starrte der Wolf sie an. "Ich weiß nicht, ich habe nie darüber nachgedacht." - "Dann denke jetzt darüber nach" forderte die Fee ihn auf. Lange Zeit blieb der Wolf stumm, dann blickte er Lunia fragend an. "Wie wäre es mit Raoul?" fragte er sie unsicher. Lunia lächelte aufmunternd. "Wenn Dir Raoul gefällt..." Jetzt lächelte auch der Wolf, zwar etwas zaghaft und verschämt, aber das Lächeln erhellte sein Gesicht und er sah gar nicht mehr wie ein großer böser Wolf aus. "Raoul", murmelte er vor sich hin, "ich bin Raoul. Ich habe jetzt einen Namen, ich heiße Raoul!" Geduldig ließ die Mondfee dem Wolf, der jetzt Raoul hieß, Zeit, sich an den Klang seines Namens zu gewöhnen.
Nach einer langen, nachdenklichen Pause fragte Raoul: "Jetzt, wo ich einen Namen habe, werde ich jetzt einen Freund finden?"
"Wie stellst du dir denn einen Freund vor? Was glaubst du, was ein Freund für dich sein wird?" Raoul überlegte kurz und dachte an das, was ihm Zissi, die Schlange, vor langer Zeit gesagt hatte. "Nun ja", begann er, "ein Freund muß mich lieben. Er muß mit mir sprechen. Er soll mich trösten, wenn ich traurig bin und mit mir lachen, wenn ich mich freue. Er wird mich bei meinem Namen nennen und immer für mich da sein." Erwartungsvoll blickte Raoul die Mondfee an. Ein träumerischer Glanz trat in seine Augen, und schüchtern fügte er hinzu: "Ein Freund muß so sein wie du." Mit einem Mal fühlte er sich ganz glücklich. Er hatte den Freund, den er suchte, ja schon gefunden, so glaubte er. Lunia hatte die Eigenschaften, die er von einem Freund erwartete. Er hoffte, daß Lunia ihm sagen würde, daß sie jetzt sein Freund sei.
Aber sie lächelte ihn nur schweigend an, und Raoul fühlte eine unbestimmte Angst in sich aufsteigen. Als Lunia endlich sprach, drang ihre Stimme wie aus weiter Ferne zu ihm: "Eine Freundschaft ist nichts Einseitiges. Weißt du, Raoul, du wirst deinen Freund genauso lieben wie er dich. Du wirst mit ihm sprechen und ihn trösten, wenn er traurig ist, so, wie er es auch für dich tun wird. Du wirst ihn bei seinem Namen nennen und du wirst immer für ihn da sein. Ihr werdet immer füreinander da sein! Das ist das Wesen der Freundschaft, Raoul. Aber das wichtigste dabei ist: erst wenn du selbst dir ein Freund sein kannst, wirst du bereit sein für einen anderen Freund. Dann erst wirst du ihn finden!"
Was sagte Lunia da? Sich selbst ein Freund sein... erst dann - ihre Worte hatten nach Abschied geklungen! "Lunia!" rief er angsterfüllt, "Lunia! Geh nicht fort, verlaß mich nicht! Bitte, Lunia, laß mich nicht allein! Ich liebe dich, Lunia!"
Ihr silberhelles Lachen entfernte sich bereits. "Raoul, du verlierst nichts! Werde ein guter Freund, Raoul!"
Die Mondfee war verschwunden. Raoul glaubte, die Leere, die sie hinterlassen hatte, nicht ertragen zu können. Er heulte laut auf vor Verzweiflung und Kummer. Lunia hatte ihn verlassen - er fühlte sich betrogen und entsetzlich einsam. Tränenüberströmt erwachte er. Da erst begriff er, daß er sein Zusammensein mit Lunia nur geträumt hatte.
8. Am Ziel
Die nun folgende Zeit war sehr schlimm für Raoul. Er lief ziellos durch sein Land und hoffte verzweifelt, daß er Lunia doch noch einmal finden könnte. Überall wurde er an sie erinnert. Wenn er sah, wie das Mondlicht sich im Wasser des Baches spiegelte, glaubte er, ihr Silberhaar zu sehen. Wenn er dem Flüstern des Grases lauschte, dann war ihm, als hörte er Lunias Stimme. Wenn er durch die Wälder streifte, hoffte er, sie im Geäst der Tannen zu finden. Und in den Bergen glaubte er die Ruhe zu spüren, die Lunia ausgestrahlt hatte.
Allmählich ebbte seine Verzweiflung ab. Raoul wurde ruhiger und nachdenklicher. Er dachte an Lunias Abschiedworte. "Du verlierst nichts. Werde ein guter Freund", hatte sie gesagt. Und: "Du musst dir selbst ein guter Freund werden!"
Und Raoul begann, mit sich selbst zu sprechen. Er sprach sich selbst Mut zu, wenn die Einsamkeit in ihm zu groß wurde und wenn er traurig war, weil Lunia nicht bei ihm war. Er lächelte vor sich hin, wenn er an sein Zusammensein mit der Mondfee dachte. Er murmelte immer wieder seinen Namen und fühlte eine stille Zufriedenheit in sich heranwachsen.
Es sprach sich bald herum unter den anderen Tieren, daß der große, böse Wolf sich auf eigenartige Weise verändert habe. Sie waren Raoul gegenüber noch immer vorsichtig. Aber im Laufe der Zeit begannen einige von ihnen, ihm aus sicherer Entfernung schüchtern zuzulächeln, und kein Tier floh mehr vor ihm. So hatte Raoul endlich zu sich selbst gefunden, und er lebte lange Zeit ruhig und zufrieden. Gelegentlich dachte er traurig an Lunia, aber wenn er das Mondlicht im Wasser des Baches schimmern sah und ihre silberhelle und doch so sanfte Stimme im Flüstern des Grases zu hören glaubte, wußte er, was Lunia gemeint hatte mit ihren Worten: "Raoul, du verlierst nichts..." Ja, sie hatte recht gehabt. Er hatte sie nicht verloren, er trug sie immer bei sich, sie war in seinem Herzen.
So vergingen die Jahreszeiten, der Herbst kam und dann der Winter, schließlich zog wieder der Frühling ins Land. An einem der ersten Sonnentage streifte Raoul voller Freude über das neu erwachende Leben durch die Wälder. Als er sich dem Bach näherte, blieb er jedoch wie angewurzelt stehen: dort sah er ein Wesen sitzen, das schöner war als alles, was er in seinem Leben je erblickt hatte! Ein silbergraues Fell leuchtete in der Sonne auf, und ihm war plötzlich, als hörte er Lunias silberhelles, fröhliches Glöckchenlachen. Da lächelte Raoul.
(c) icke, 1986