Meine Kindheit in Westberlin

Es war ein Kapitel für sich, im von den westlichen Alliierten besetzten Teil Berlins aufzuwachsen. Rundum den Westteil der Stadt stand die berühmte Berliner Mauer. Wir lernten in der Schule, daß links der Westen und Rechts der Osten ist, doch wenn wir an der westlichen Stadtgrenze an der Mauer entlang kamen, hieß es "da drüben ist der Osten!" Aha, alles was jenseits der Mauer war, hieß der Osten, ob wir in den Stadtteilen Neukölln, Kreuzberg, Wedding und Tiergarten waren, oder eine Fahrradtour entlang Reinickendorf, Spandau und Zehlendorf machten.
Was der "Osten" für die Erwachsenen bedeutete, ließ viele Fragen in uns Kinder aufkommen. Unter Tränen wurde uns erzählt, daß wir nicht zur anderen Oma fahren konnten. Warum das so war, wurde uns nicht richtig erklärt. Meine Urgroßtante durfte jederzeit zu ihrer Schwägerin nach Niederlehme, wobei die mich oft mitnahm, bevor ich ins Kinderheim gekommen bin.
Ich bin gerne mit bei Tante Annie in Niederlehme gewesen und verstand mich prima mit den Kindern im Ort. Was haben wir nicht alles für lustige Streiche verzapft. Am Abend waren alle Nachbarn zum Grillen eingeladen. Der Grill selbst war ein aus Schrott zusammen gezwirbeltes Unikat, was lange seinen Zweck erfüllte.


Bevor ich anno 1978 aus dem Elternhaus geholt wurde und erstmal lange im Krankenhaus war, habe ich viel mit den Kindern in meiner Straße gespielt. Wir Moabiter verjagten die Charlottenburger, zusammen mit den Weddingern, taten uns mit den Kreuzbergern zusammen gegen die Kinder reicherer Bezirke, besonders Zehlendorfer hatten die A....karte, wenn sie eines unserer Arbeiterviertel betraten. Wir haben uns selten geprügelt. Es flogen Schimpfwörter der untersten Schublade. Wir freuten uns einen Kullerkeks, wenn die Erwachsenen mit roten Gesichtern an uns vorbei gelaufen sind, bzw ihre Fenstern schlossen.


Im Kinderheim war ich entsetzt über mich selber, denn hier mußte ich erkennen, daß unter den Charlottenburgern, Zehlendorfern und Wilmersdorfern genauso viele arme Würstchen saßen, wie wir aus den sogenannten Arbeiterbezirken. Als dann auch noch eines jener Kinder im Heim auftauchte, das unter denen war, die ich mit aus Moabit jagte, schluckte ich. Ich erwartete eins auf die Zwölf, doch wir umarmten uns versöhnend, lachten über unsere Lümmelschaft. Wenn Kinder zu uns kamen, derren Eltern vom Ostteil in den Westteil geflüchtet sind, haben wir unsere Sachen mit denen geteilt, einem Mädchen habe ich meinen Kassettenrekorder geschenkt und mir vom Taschengeld einen neuen zusammen gespart.


Wenn wir in den Sommerferien zu Gasteltern nach Holland verschickt wurden, standen wir mit noch viel mehr westberliner Heimkindern und Kindern aus schwierigen Familien auf dem Bahnhof Charlottenburg voller freudiger Erwartung. Der Kindersonderzug nach Arnhem (NL), bestehend aus einer "Ludmilla" und je nach Kinderanzahl zwischen 11 und 13 Personenwaggons der Deutschen Reichsbahn, rumpelte in den Bahnhof. Wir Kinder bekamen eine Karte um den Hals und eine an den Koffer, worauf unsere Personalien und die Personalien der Gasteltern standen. Nach Erhalt der Karten stürmten wir in den Zug auf der Jagd nach einem Fensterplatz.


Westberlin war noch nicht verlassen, als wir neugierig in unsere Proviantpäckchen sahen. In Griebnitzsee stand der Zug immer ziemlich lange. Unsere Pässe waren bei den Zugbegleitern, die meisten davon waren ehrenamtlich arbeitende Sozialarbeiter oder Schullehrer. Trotzdem sahen sich während der Fahrt durch die DDR die Grenzkontrolleure genau um. Die meisten von denen waren jedoch sehr freundlich.


Da wir nachts fuhren, war nicht mehr viel zu sehen, doch Marienborn erkannte ich immer. Die nächste Stadt in der BRD war Helmstedt, wo die Ludmilla abgekoppelt wurde und auf einem Rangiergleis auf den nächsten "Interzonen"zug nach Westberlin wartete. Unser Sonderzug wurde meistens von einer E 110 der Deutschen Bundesbahn (wir machten aus DB scherzhaft Donnerbüchse) weiter gezogen bis Bad Bentheim, wo eine E-Lok der Niederländischen Staatsbahn auf uns wartete, in der Regel eine vom Typ 1800. Ich habe es deswegen oft beobachtet, weil ich nicht schlafen konnte, wie viele andere. Die Kinder, die schlafen konnten, boten ein lustiges Schnarchkonzert.


Als Jugendliche wollte ich nicht hinnehmen, daß die Mauer existierte und da ich zwischen 1986 und 1988 eh in einer LMAA-Phase war, hatte ich vor nichts Angst. Mit ein paar anderen kletterten wir in Kreuzberg auf die Mauer, ein Bein im Osten, ein Bein im Westen. Das haben die Anwohner mitbekommen und riefen die Polizei. Von der westberliner Seite aus versuchten uns Polizeibeamte von der Mauer zu holen, doch wir machten denen eine lange Nase. Auf der anderen Seite erschien die Volkspolizei. Da wir nicht wußten, was schlimmer war (zurück ins Heim oder Verhör bei der Volkspolizei), sprangen wir auf DDR-Gebiet hinunter.


Widerstandslos stiegen wir in einen dunkelgrüngrauen LKW und ließen uns "abführen". Mulmig wurde uns dabei schon, denn wir konnten nicht sehen, wo es hin ging. Aus dem erwarteten Verhör wurde ein Empfang bei Würstchen und Kartoffelsalat. Wir dachten, wir träumen. Wir wurden wohl ermahnt, daß es das beim nächsten Mal nicht mehr gibt. Am Ende wurden wir mit dem selben LKW zum Grenzübergang Checkpoint Charly gebracht, wo die Reporter einer bekannten Berliner Stadtzeitung scharf auf unsere Berichte waren. Meine Mutter und meine Oma haben sich am Kopf gefasst "Mädel, was machst du denn für Sachen?" und diese eine Zeitungsausgabe von 1987 aufbewahrt. Meine Mutter kann sie leider nicht mehr finden, sonst hätte ich den Artikel eingescannt und euch gerne gezeigt.


Eines nachts wecken uns unsere Heimerzieher mit den Worten, die Mauer ist weg. Ungläubig schaute ich aus dem Fenster "nee, die steht doch noch". Erst als wir alle zusammen am Checkpoint Charly standen, sich sämtliche Berliner von Ost und West jubelnd umarmten, fiel mir ein großer Brocken vom Herzen. Tagelang war der Kurfürstendamm gesperrt für den Autoverkehr, wegen der Riesenparty. Was ist eigentlich bis heute aus der großen Freude geworden?


Ich fühle mich weder als Wessi, noch als Ossi, eben geamtdeutsch und heute eine "Exilbulette" mit "Käsefüllung".

Kommentare 2

  • Vielen Dank für den lieben Kommentar, zicklein
    Von den Kindern in Niederlehme habe ich damals viel abgeguckt. Noch heute werfe ich nichts weg, was noch nützlich ist, entweder ich verschenke es an Menschen, die es gebrauchen können, tausche es ein gegen etwas anderes, oder kann die Einzelteile wieder verwenden, wenn etwas repariert werden muss. Ansonsten fällt mir immer etwas ein, wenn eine provisorische Lösung gefragt ist.
    Deswegen kann mich auch keine Krise wirklich jucken. Wenn mehr Bürger wieder dazu über gehen würden, nachzudenken und mehr Eigeninitiative zeigen, einer vom anderen was lernt und nicht belächelt, seine Sachen pfleglich behandelt anstatt ständig was Neues haben zu wollen, anderen ihr Leben gönnt und nicht beneidet, klappt es auch weiterhin mit der Wiedervereinigung.


    Übrigens durfte ich immer zu den gleichen Gasteltern reisen, mit denen ich in herzlichen Kontakt bleibe. Jetzt, wo ich selber in Holland wohne, sehen wir uns öfter.


    LG, Angela

  • na wenn das nicht eine nachdenkenswerte geschichte ist angela. prima geschrieben, vielen dank dafür! :) eine "exilbulette mit käsefüllung" , du hast einen goldigen humor. ja was ist aus dieser großen freude geworden? vieles stimmt mich sehr traurig, man hätte die einheit langsam angehen sollen, aber hätt der hund nicht geschi ... hätt er den hasen gehabt heißt es. man könnte noch immer versuchen das beste draus zu machen. aber wie? ich hab ehrlich gesagt keine peilung. na klar hab ich ne peilung, aber nicht die nötige macht sie umzusetzen. das gute vom osten und vom westen zusammengepackt und es ginge viiiiel besser. aber angeblich ist das nicht möglich. na gut, wenn die schlauen damen und herren es sagen.