Dieses Urteil habe ich vorgestern erhalten, hier der Inhalt:
Gericht: Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt Senat für Rehabilitierungssachen
Entscheidungsdatum: 03.12.2015
Aktenzeichen: 2 Ws (Reh) 45/15
Dokumenttyp: Beschluss
Leitsatz Die Einweisung in ein Spezialkinderheim ist in der Regel unverhältnismäßig, wenn der Betroffene sich nicht
gemeingefährlich verhalten oder erhebliche Straftaten begangen hatte.
Tenor
1. Auf die Beschwerde der Betroffenen wird der Beschluss des Landgerichts Magdeburg vom 17. September 2015
aufgehoben.
2. Die Einweisung und Unterbringung der Betroffenen im Jugendwerkhof in B. wird für rechtsstaatswidrig erklärt und
aufgehoben.
3. Die zu Unrecht erlittene Freiheitsentziehung dauerte vom 20. Januar 1965 bis 31. Dezember 1966.
4. Sich aus der Entscheidung ergebende Ansprüche können bei dem
Landesverwaltungsamt
Referat Vorsorgerecht
Soziales Entschädigungsrecht
Hauptfürsorgestelle
Maxim Gorki Straße 7
06114 Halle (Saale)
geltend gemacht werden.
5. Diese Entscheidung ergeht gerichtskostenfrei. Die notwendigen Auslagen der Betroffenen trägt für beide Instanzen die
Landeskasse.
Gründe
I.
1 Das Landgericht Magdeburg hat den Antrag der Betroffenen, sie wegen der Einweisung in den Jugendwerkhof B. in der
Zeit vom 20. Januar 1965 bis 31. Dezember 1966 zu rehabilitieren, als unbegründet zurückgewiesen.
2 Hiergegen richtet sich ihre rechtzeitige Beschwerde. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, diese als unbegründet
zu verwerfen.
II.
3 Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
4 Behördliche Entscheidungen der ehemaligen DDR über eine Heimunterbringung unterliegen der strafrechtlichen
Rehabilitierung, wenn sie der politischen Verfolgung bzw. sonst sachfremden Zwecken gedient haben oder die
angeordneten Rechtsfolgen in einem groben Missverhältnis zu dem zugrunde liegenden Anlass stehen (§§ 2 Abs. 1, 1
Abs. 1 StrRehaG). Dabei bedarf der Gesichtspunkt des freiheitsentziehenden Charakters einer solchen Maßnahme nach
der obergerichtlichen Rechtsprechung keiner gesonderten Überprüfung, denn hierfür besteht gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2
StrRehaG eine gesetzliche Vermutung (ständige Rechtsprechung des Senates; vgl. auch Thüringer Oberlandesgericht,
Beschl. v. 17. Januar 2012 - 1 Ws Reha 50/11, zit. nach juris).
5 Dies zugrunde gelegt erweist sich die Entscheidung, die Betroffene in einen Jugendwerkhof einzuweisen, als
unverhältnismäßig und mit dieser Entscheidung wurden sachfremde Zwecke verfolgt.
6 Die Verfügung des Rates des Kreises S. vom 20. Januar 1965 gibt als Begründung der Einweisung der Betroffenen an, dass die Betroffene im letzten Schuljahr 18 Tage der Schule mit mehr oder weniger stichhaltigen Entschuldigungen
ferngeblieben sei und sie 40 Tage die Schule „gebummelt“ habe. Ihre Freizeit fülle sie mit Männerbekanntschaften aus.
Die berufstätigen Eltern seien nicht mehr in der Lage, die Erziehung auszuüben.
7 Nach § 1 Abs. 2 der Anordnung über die Spezialheime der Jugendhilfe vom 22. April 1965 (welche am 20. Januar 1965 zwar noch nicht in Kraft war, aber die bisherige Einweisungspraxis fortschrieb) wurden in die Spezialheime
„schwererziehbare und straffällige Jugendliche sowie schwererziehbare Kinder, deren Umerziehung in ihrer bisherigen
Erziehungsumgebung optimal erzieherischer Einwirkung der Gesellschaft nicht erfolgreich verlief“ eingewiesen (vgl auch Dreier/Laudien, Einführung Heimerziehung in der DDR, S. 88 ff.).
8 Diese Voraussetzungen erfüllte das Verhalten der Antragstellerin nicht. Sie war weder straffällig noch durch besondere
Erziehungsschwierigkeiten aufgefallen. Die „Schul-bummelei“ und die Männerbekanntschaften dürften „normale“
Schwierigkeiten eines sich in der Pubertät befindlichen Mädchens gewesen sein. Eine aufgrund der familiären Situation
(möglicherweise) angezeigten Erziehung in einem Normalheim wurde noch nicht einmal versucht.
9 Im Übrigen merkt der Senat an, dass der mit den Spezialheimen verfolgte Zweck der Umerziehung und der in diesen
Heimen stets mit schweren Menschenrechtsverletzungen erzwungene Umbau der Persönlichkeit in aller Regel nur dann
zu rechtfertigen war, wenn der Eingewiesene zuvor erhebliche Straftaten begangen, oder sich gemeingefährlich verhalten hatte. Anderenfalls dürfte eine Einweisung in ein Spezialheim in aller Regel unverhältnismäßig sein (vgl. noch
weitergehender Wasmuth, Endlich Licht am Ende des langen Tunnels problematischer Entscheidungen der
strafrechtlichen Rehabilitierungsgericht, ZÖV 2015, S. 126 [132], der eine zwingende Rehabilitierung sämtlicher
Einweisungen in Spezialheime fordert). Beide Voraussetzungen sind bei der Antragstellerin nicht gegeben, sodass die
angeordnete Rechtsfolge - hier die Einweisung in einen Jugendwerkhof - in einem groben Missverhältnis zu der zugrunde liegenden Tat stand.
10 Des Weiteren ist der Senat aufgrund der Angaben der Betroffenen davon überzeugt, dass mit der Einweisung auch
sachfremde Zwecke verfolgt wurden. Die Antragstellerin hat glaubhaft geschildert, dass ihre Großmutter zur Aufnahme bereit gewesen sei, dies aber von den Behörden nicht erwogen worden sei, da diese als politisch unzuverlässig galt,
was sich letztlich in deren Übersiedlung in die BR Deutschland im Jahr 1965 zeige. Da die Verhaltensauffälligkeiten der Betroffenen nicht so gravierend waren, dass eine Einweisung in ein Spezialheim gerechtfertigt gewesen wäre, wäre
deshalb eine Unterbringung außerhalb des (möglicherweise) problematischen Elternhauses bei aufnahmebereiten
Verwandten, gegebenenfalls in Kombination mit ambulanten pädagogischen Maßnahmen, als Alternative zur
Unterbringung in einem Heim in Betracht gekommen. Dass eine solche von den Behörden nicht in Betracht gezogen
wurde, weil diese Verwandte (Großmutter) als politisch unzuverlässig galt, stellt einen sachfremden Zweck der
Einweisung selbst dar.
III.
11 Die Kostenentscheidung folgt aus § 14 Abs. 1 StrRehaG, die Auslagenentscheidung aus § 14 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4
StrRehaG i.V. m. § 473 StPO.
Quelle: http://www.landesrecht.sachsen…l=bssahprod.psml&max=true
Volkmar