Stuttgart. Autor: RAIMUND WEIBLE | 05.04.2011
Gewalttätige Übergriffe auf Heimkinder kamen in den 50er und 60er Jahren in katholischen Jugendheimen Württembergs häufig vor. Das hat eine Studie Stuttgarter Sozialwissenschaftler ergeben.
Erschütternde Berichte ehemaliger Heimkinder haben Mitarbeiter des Stuttgarter Instituts für angewandte Sozialwissenschaften aufgezeichnet. In dem Buch "Die Zeit heilt keine Wunden" erzählen 25 männliche und weibliche Interviewpartner von ihren Erfahrungen während ihres Aufenthalts in Jugendhilfeeinrichtungen der Diözese Rottenburg-Stuttgart vor 50 und 60 Jahren.
Die ehemaligen Heimkinder schildern detailliert harten Drill, seelische Kälte und Prügelstrafen durch das Aufsichtspersonal. An den Folgen leiden die Betroffenen heute noch. Einige sprechen davon, ihre Persönlichkeit habe wegen der Erlebnisse in ihrer Kindheit dauerhaft Schaden genommen.
Einer der Interviewpartner gab seine Erfahrungen mit einer Schulschwester zu Protokoll, "die einen sowohl körperlich misshandelt hat, aber auch psychisch extrem unter Druck gesetzt". Diese Frau habe Spaß gehabt, andere zu quälen. Ein anderes ehemaliges Heimkind beschreibt eine Ordensschwester, die den Kindern sagte, sie harmonierten wunderbar mit dem Teppichklopfer - so sehr, dass man ihn besser für den Rücken hernehme. Von einem Schulleiter ist die Rede, der so brutal gewesen sei, dass man nach der Züchtigung "drei Tage im Bett lag".
Den Kindern wurde das Bild von einem strafenden Gott vermittelt. Die Autorinnen tragen vor, dass mancherorts die Erzieher sich nicht davor gescheut haben, achtjährigen Kindern ihre "Erbsünde" vor Augen zu führen und ihnen die Schuld für ihre familiäre Herkunft zu geben.
Auch von sexuellen Übergriffen ist in dem Buch die Rede. 13 von 25 Gesprächspartnern sprechen davon. Die Vergehen an den Kindern reichten von Bloßstellen und verbaler Demütigung über ein Berühren an intimen Körperstellen bis hin zu Vergewaltigung.
Die befragten 25 ehemaligen Heimkinder und 15 Erziehungspersonen lebten und arbeiteten in den 15 heute noch bestehenden Jugendhilfeeinrichtungen der Diözese. Ein Teil kannte auch die 18 Einrichtungen, die im Laufe der vergangenen 60 Jahre aufgelöst wurden.
Die Leiterin der Studie, Professor Susanne Schäfer-Walkmann, sagte, es handle sich bei der Beschreibung empörender Verhältnisse nicht um Einzelfälle. Allerdings lasse sich die Lebenswirklichkeit in den Heimen der Erziehungshilfe nicht ausschließlich auf die Formel "Nur Schläge im Namen des Herrn" reduzieren. Es habe auch Menschen zur damaligen Zeit gegeben, "die im Rahmen ihrer Möglichkeiten den Kindern Zuwendung und Geborgenheit vermittelt haben". Die 320-seitige Arbeit erschien im Lambertus-Verlag Freiburg. Sie sei die bisher erste Studie dieser Art unter den deutschen Diözesen.
Bischof Gebhard Fürst wertete die Darstellung von Vorgängen in den Kinderheimen der Diözese als wichtigen Beitrag zur Diözesan-Geschichte. Manchen Heimkindern sei die Kindheit geraubt worden, und sie müssten ihre verlorene Kindheit als schwere Last bis heute mitnehmen, bis in die späten Erwachsenenjahre hinein. Es beschäme ihn als Bischof zutiefst, "dass im Verantwortungsbereich unserer Kirche damals so schlimme Dinge geschehen konnten". Er bat die ehemaligen Heimkinder für das Erlittene persönlich und im Namen der Diözese um Vergebung. Fürst: "Ich hoffe, dass sie das hören und annehmen können."
Laut Irme Stetter-Karp, der Leiterin der Hauptabteilung Caritas der Diözese, erkennt die Diözese an, dass Unrecht geschehen und Leid verursacht worden ist. Ihre Einrichtung werde sich aktiv an den rehabilitativen und finanziellen Maßnahmen beteiligen, die der Runde Tisch Heimerziehung empfohlen habe. Das werde geschehen, sobald diese Empfehlungen politisch von Bund und Ländern entschieden seien.
Quelle: Südwestpresse