*edit*Geteilte Ansichten
Vor einigen Jahren, um genau zu sein kurz nach der Wende,
fasste ich den Entschluss einen Abstecher nach Altengottern zu machen.
Ich lebte zu dieser Zeit schon in der Nähe von Frankfurt am Main, war
glücklich verheiratet fuhr also zum ersten Mal wieder in die (noch) DDR.
Ich hatte diese Reise ohne meine Familie angetreten, zu stark war noch
die Furcht vor den ostdeutschen Grenzern, ihren Schikanen und
unverschämten Kontrollen. Das alles wollte ich der Familie nicht
zumuten.
Ich war erstaunt, wie einfach und problemlos ich die Grenze bei
Katharinenberg passieren konnte. Ein Stempel im Pass und das war es auch
schon. Ein freundliches "Guten Aufenthalt" des Grenzbeamten, dann
durchfuhr ich Thüringen.
In Mühlhausen, meiner Geburtsstadt machte ich Halt. Diese Stadt hatte
ihr Aussehen in den letzten 20 Jahren völlig verändert. Die alten,
historischen Gebäude waren teil verfallen oder stark ramponiert und ein
beißender Geruch, der im Hals kratzte und einen Hustenreiz auslöste,
hing wie eine Glocke über den Strassen.
Schnell kehrte ich der Stadt den Rücken und atmete erleichtert die
Landluft durch das offene Autofenster, als ich die B247 in Richtung Bad
Langensalza fuhr.
Von Großengottern schlug ich den Weg in Richtung Altengottern ein. Diese
wenigen Kilometer erinnerten mich daran, dass wir als Kinder hier oft
entlang liefen, um ins Kino zu gehen.
Je näher ich Altengottern kam, desto beklommener wurde mir zu mute. Wie
mochte es wohl an jener Stätte aussehen, die 5 Jahre lang mein "zu
Hause" bedeutete. Ungute Erinnerungen mischten sich mit einer
ängstlichen Erwartung. Und diese Gefühl wurde stärker, je näher ich dem
Ort kam. Hinter der Brücke über der Unstrut, sie bildete den
Ortseingang, hielt ich zögernd an.
Nur Mut, sagte ich mir nach einiger Zeit, startete das Auto und fuhr die
wenigen Meter zum Schloss. Als ich auf das Gelände vor dem Gebäude
einbog, klopfte mein Herz heftig. Was würde ich nach fast zwanzig Jahren
hier antreffen? Was würde mich erwarten? Vor allem, was erwartete ich?
Einige Jungen und Mädels zwischen 10 und 12 Jahren schauten neugierig zu mir herüber, als ich aus dem Auto stieg.
"Könnt ihr mir sagen, wie ich zur Heimleitung komme?" sprach ich die Gruppe an.
Ein Mädchen erklärte sich bereit, mich in das Büro des Heimleiters zu führen.
Als ich über die Freitreppe in die dunkel getäfelte Halle trat, war ich
nicht sehr überrascht, dass sich hier nicht viel verändert hatte. Über
die noch immer knarrende Holztreppe zur rechten ging es hinauf in den 1.
Stock. Eine ältere Frau mit grauen Haaren kam uns entgegen.
"Das ist Frau Griese", sagte das Mädchen, ließ mich stehen und lief zurück zu ihren Kameradinnen.
Frau Griese war schon zu meiner Zeit eine der Erzieherinnen und ich
konnte mich sehr gut an sie erinnern. Als ich mich vorstellte kam ein
Lächeln über ihre verkniffenen Lippen.
"Du bist..., ich darf doch Du sagen...?" Ich nickte bestätigend. "Du
bist also unser Sorgenkind, das immer wieder entlaufen ist und sich nie
einfügen konnte."
Frau Griese führte mich in eines der Büros und bei einer Tasse Kaffee,
es war tatsächlich Bohnenkaffee, plauderten wir über das Heim, die
Erzieher, Altes und Neues.
Wie lange wir uns über die vergangenen Jahre unterhielten wurde mir erst bewußt, als es draußen bereits dunkel wurde.
Viel zu kurz empfand ich diesen Besuch. Zu kurz um Eindrücke über das
jetzige Leben der Kinder im Heim mit jenen aus der Vergangenheit zu
vergleichen.
Als ich mich verabschiedete, versprach ich wieder einmal vorbei zu kommen.
Geblieben ist aber das Bewusstsein, dass es über die vergangenen Jahre geteilte Ansichten gibt.
Lg