An mich wird sich sicherlich der oder die eine erinnern. Das ganz sicher mit gemischten Gefühlen.
Ich war nicht sonderlich beliebt, wurde für einen Idioten gehalten und auch so behandelt.
Es war nicht Erziehungsarbeit, sondern Vernichtungsarbeit.
Noch heute frage ich mich, was habe ich als kleiner Bub getan, um so verachtet und seelisch mißhandelt zu werden?
Es war für mich eine Tortur, eine Seelenqual. Jeden Tag Demütigungen und Erniedrigung.
Als kleines Kind wurde ich durch pädagogische De-sensibilisierungstrategien aller menschlichen Empfindungen beraubt - seelisch entkernt.
Ich war im wahrsten Sinne "Niemand", ein Niemand, der den anderen nichts bedeutete geschweige denn etwas wert war.
Ich werde einmal über all diese Dinge sprechen, über die Mechanismen einer pädagogischen Zurichtungspraxis und das Menschenbild, welches dahinter steht -
sowohl das offizielle Gutmenschentum, als auch das auf Endlösung strebende kleinbürgerliche Mittelmaß in Gestalt von Erziehern/Erzieherinnen und Pädagogen/Pädagoginnen werden im Mittelpunkt meiner Ausführungen stehen und deren Praxis. Es ist keine rein ideologische, sondern auch eine die Praxis und der darin vermittelten "Normalität" betreffende inhaltliche Auseinandersetzung.
Dann, wenn man mir keine Rachegelüste mehr unterstellen kann, sondern nur noch das Verstehen im Vordergrund steht und der ganz große Schmerz bleibt - ja, dann werde ich reden. Ich rede nicht für meine Peiniger, schon gar nicht in der mir zugedachten Opferrolle. Nein, ich bin nicht mehr deren Opfer. Ihre Ansichten bestimmen nicht mehr mein Verhalten. Verstehen will ich!
Dazu ein kleiner Beitrag:
Beschädigte Identität
Es waren die Erfahrungen permanenter Demütigungen und Erniedrigungen,
welche das Bild von einem Selbst so verfremdeten , dass man auch heute
noch nicht so recht weiß, wer man eigentlich ist. Erving Goffman, ein
amerikanischer Soziologe, sprach hier von einer beschädigten Identität,
an der man versucht ist, ständig etwas zu korrigieren. In diesem Falle
nannte es Erving Goffman "Stigmamanagment".
Das Stigma "Heimkind" wird zu einem alles überwiegenden Status für das
Kind, das fortan mit diesem Makel (angeblich weniger wert zu sein) leben
muss und sich so genötigt sieht, alles daran zu setzen, diesen wieder
loszuwerden.
Angesichts der Tatsache, dass diesem immer wieder diese Wahrnehmung von
Erziehern oder Erzieherinnen aufgenötigt wird, entwickelt das Kind zur
Überwindung seines Makels das sogenannte Stigmamanagement
.
Es lernt auf recht eigentümlicher Weise mit der zugedachten Rolle zu
leben.
(siehe hierzu auch Erving Goffman: "Stigma
" : Über Techniken der
Bewältigung beschädigter Identität,12.Aufl.1996, Suhrkamp Verlag.)
"Die veränderte Selbstdefinition des Kindes als Resultat der
Fremddefinition des Erziehers/ der Erzieherin erzeugt und verfestigt
Verhaltensweisen, welche die Erwartungen des Erziehers/ der Erzieherin
bezogen auf die Abweichlerrolle des Kindes zu bestätigen scheinen"
( Friedrich Lösel : Prozesse der Stigmatisierung) .
In einer "sich selbst erfüllenden Prophezeihung" erfüllt das Heimkind
schon im vorauseilendem Gehorsam die Erwartungen des Erziehers/ der
Erzieherin hinsichtlich der von diesen zugedachten Rolle.
Es wird dann zu einer information über das Verhalten des Kindes, an dem
es, mit entsprechend erweiterten Eigenschaften bedacht, in eine
bestimmte Rolle gedrängt wird. Fortan ist es das verhaltensauffällige
und dumme Kind. Nun rechtfertigt sich die "Erziehungsgewalt". Die
Sonderbehandlung hat seine ideologische, quasi wissenschaftliche
Begründung. Es ist die Verhaltensauffälligkeit des Kindes, der mit allen
pädagogischen Mitteln begegnet werden muss. Seine angebliche moralische
und sittliche Verderbtheit , seine "antisoziale Haltung", seine
"charakterlichen Mängel" werden zum Anlass genommen, das Kind im Sinne
der Peiniger zuzurichten.
Man könnte Heimerziehung auch als einen "Prozeß sozialer oder
gesellschaftlicher Ausgliederung" bezeichnen, dahingehend, das dem Kind
oder Jugendlichen das normale Leben erschwert wird und jede Anstrengung,
die er zur Verbesserung seiner Lage unternimmt in den Blickwinkel
seiner Erzieher und Lehrer gerät. Es steht ständig unter deren Bewertung
und Kontrolle.
Es ist gerade die verherrende Eigenlogik der permanenten Bewertung und
Kontrolle, welche das Verhalten des Kindes provozieren und das
Selbstbild als "beschädigte Identität" formen. Kind ist sich fremd und
kennt seine Bedürfnisse nur aus dem Blickwinkel seiner Erzieher oder
Erzieherinnen. Es darf nur das, was man ihm erlaubt und was man ihm
zukommen lässt. Das Heimkind ist ein Rumpfwesen, zusammengesetzt aus
Teilstücken. Das Kind fühlt sich aussätzig, da man ihm immer das Gefühl
gab, aussätzig zu sein.
Real wirkt sich das auf sein gesamten Werdegang aus, sei es in der
Schule oder im Berufsleben.
Nie wird sich das Kind im späteren Leben als vollwertig anerkannt
fühlen. Denn das Gefühl ist ihm fremd.
Was bleibt ist ein mehr oder weniger gelungenes Leben vor dem
Hintergrund seiner beschädigten Identität.
Sich selbst eingestehen will man es nicht, viel lieber alles vergessen
und ein "normales" Leben führen.
Das Vergessen und Verdrängen hat dazu geführt, das die Peiniger immer so
weiter machen konnten und wir uns wundern, dass es jetzt doch zur
Sprache kommt.
Frank Maywald