Deutscher Bundestag
17. Wahlperiode
Drucksache 17/6093
08. 05. 2011
Antrag
der Abgeordneten Heidrun Dittrich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Ulla Jelpke, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Wolfgang Neskovic, Yvonne Ploetz, Kersten Steinke, Halina Wawzyniak, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.
Unterstützung für Opfer der Heimerziehung – Angemessene Entschädigung für ehemalige Heimkinder umsetzen.
Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
1. Am 13. Dezember 2010 wurde der Abschlussbericht des Runden Tisches Heimerziehung der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Runde Tisch befasste sich mit der Situation von Kindern und Jugendlichen, die in den Jahren 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland in stationärer Heimunterbringung lebten.
In seinem Abschlussbericht kommt der Runde Tisch zu der Bewertung, dass die Gründe wegen derer die Kinder und Jugendlichen in Heimerziehung kamen, aus heutiger Sicht oftmals nicht nachvollziehbar sind. Denn dabei hätten auch die damalige Rolle der Heimerziehung als disziplinierende und kontrollierende Instanz, ein reaktionär-konservativer Zeitgeist und eine andere gesellschaftliche Sicht auf Kinder und Jugendliche eine Rolle gespielt.
Der Runde Tisch erkennt zudem an, dass bei der Durchführung der Heimerziehung Unrecht geschehen und Leid verursacht worden ist. Die Auflistung der zahlreichen Missstände erfolgt im Abschlussbericht unter den Zwischenüberschriften: „Strafen in der Heimerziehung“, „Körperliche Züchtigung“, „Arreststrafen und Essensentzug“, „Demütigende Strafen“, „Kollektivstrafen“, „Kontaktsperren und Briefzensur“, „Sexuelle Gewalt“, „Religiöser Zwang“, „Einsatz von Medikamenten/Medikamentenversuche“, „Arbeit und Arbeitszwang“ sowie „Fehlende oder unzureichende schulische und berufliche Förderung“.
In einer zusammenfassenden Bewertung kommt der Runde Tisch schließlich zu der Einschätzung, dass es in der Heimerziehung der frühen Bundesrepublik zu zahlreichen Rechtsverstößen gekommen ist, die auch nach damaliger Rechtslage und deren Auslegung nicht mit dem Gesetz und auch nicht mit pädagogischen Überzeugungen vereinbar waren. Elementare Grundsätze der Verfassung wie das Rechtsstaatsprinzip, die Unantastbarkeit der Menschenwürde und das Recht auf persönliche Freiheit und körperliche Integrität hätten bei weitem zu wenig Beachtung und Anwendung gefunden. Die Heimerziehung in der DDR bedarf ebenso einer kritischen Aufarbeitung. Die Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR ist jedoch noch nicht abgeschlossen.
2. Als Rehabilitierung schlägt der Runde Tisch ein Maßnahmebündel vor. Dazu gehören vor allem die Anerkennung des erlittenen Unrechts und eine Entschuldigung der damals Verantwortlichen, die Vereinfachung der Einsichtnahme der Betroffenen in ihre damaligen personenbezogenen Akten sowie die Einrichtung von niedrigschwelligen Anlauf- und Beratungsstellen. Für finanzielle Maßnahmen soll ein Fonds für ehemalige Heimkinder gegründet werden. Dafür sollen 120 Millionen Euro zur Verfügung stehen, die zu gleichen Teilen von Bund, den westdeutschen Bundesländern und den beiden Kirchen getragen werden sollen.
Der Runde Tisch orientiert seine Vorschläge für aus dem Fonds zu leistende finanzielle Entschädigungen dabei an heute noch bestehenden Beeinträchtigungen, die die Heimerziehung verursacht hat. 20 Millionen Euro sollen für einen „Rentenersatzfonds“ und 100 Millionen Euro für einen „Fonds für Folgeschäden aus Heimerziehung“ zur Verfügung stehen. Aus diesem „Folgeschädenfonds“ sollen Maßnahmen zugunsten einzelner Betroffener aufgrund von Traumatisierungen und besonderem Hilfebedarf bezahlt werden können. Der Katalog des „besonderen Hilfebedarfs“ enthält im Wesentlichen die üblichen Angebote von Trägern der Sozialen Arbeit mit älteren Menschen in schwierigen Lebenslagen.
3. Viele Betroffene, die in Erziehungsheimen der Bundesrepublik Leid und Unrecht erfahren haben, distanzieren sich von den Ergebnissen des Runden Tisches. Sie kritisieren bereits dessen Zusammensetzung. So seien unter den 21 stimmberechtigten Mitgliedern lediglich drei ehemalige Heimkinder vertreten gewesen. Die ehemaligen Heimkinder seien zudem massiv unter Druck gesetzt worden. Es habe geheißen, wenn nicht weiterverhandelt werde, sei der Runde Tisch geplatzt, und es gebe gar nichts für die ehemaligen Heimkinder (Das Parlament vom 24.01.2011). Der im Abschlussbericht vorgeschlagene Fonds mit 120 Millionen Euro sei unterfinanziert und auf keinen Fall ausreichend. Mit dieser Summe sei eine angemessene Entschädigung für die meisten Opfer nicht möglich (Das Parlament a.a.O.).
4. Der Deutsche Bundestag erachtet insbesondere die Frage der finanziellen Entschädigung ehemaliger Heimkinder durch die Empfehlungen des Runden Tisches als nicht zufriedenstellend gelöst. Die finanziellen Empfehlungen des Runden Tisches zielen nicht auf eine Anerkennung der Leiden der ehemaligen Heimkinder. Sie versuchen durch das Anknüpfen an noch vorhandenen Folgeschäden lediglich, eine angemessene Versorgung der Opfer der Heimerziehung sicherzustellen. Eine angemessene Versorgung sollte jedoch bereits im Rahmen der allgemeinen sozialen Sicherungssysteme selbstverständlich gewährleistet sein.
Die Betroffenen dürfen aus Sicht des Deutschen Bundestages erwarten, dass eine finanzielle Anerkennung ihrer Leiden nicht von noch vorhandenen Folgeschäden abhängig gemacht wird. Eine gerechte Entschädigung muss an dem verübten Unrecht ansetzen. Eine pauschalierte Opferentschädigung für ehemalige Heimkinder, die unter dem „System Heimerziehung“ gelitten haben, ist deshalb unerlässlich.
Eine solche pauschalierte Opferentschädigung ist auch mit den Feststellungen des Runden Tisches vereinbar. Der Runde Tisch spricht von einem „System Heimerziehung“. Prof. Dr. Manfred Kappeler wies in seiner Würdigung des Abschlussberichts des Runden Tisches auf das systematische Unrecht hin, das in Heimen stattgefunden hat. Die ehemaligen Heimkinder selbst wollten den Begriff des „Unrechtssystems der Heimerziehung“ in den Runden Tisch einführen, wurden jedoch überstimmt.
Die Ausgrenzung der Heimkinder und ihre Ohnmacht gegenüber den Institutionen war weit verbreitet und wurde vom damals geltenden Recht mit verursacht und begünstigt. Die Personengruppe der Heimkinder war dadurch von wesentlichen rechtsstaatlichen Sicherungen ihrer Rechte ausgeschlossen. Der Rechtsstaat Bundesrepublik hat seine eigenen Ansprüche gegenüber den Heimkindern nicht eingelöst.
5. Die Höhe der Entschädigungszahlungen sollte sich an dem Beispiel anderer Staaten orientieren. In der Republik Irland erhielten ehemalige Heimkinder eine Entschädigung von durchschnittlich 75 000 Euro. Insgesamt wurde dort eine Summe von insgesamt 1,2 Milliarden Euro für die Opferentschädigung zur Verfügung gestellt. In der Bundesrepublik empfiehlt aktuell die Unabhängige Beauftragte des Runden Tisches Sexueller Missbrauch bis zu 50 000 € als Entschädigung an die Betroffenen zu zahlen.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. zeitnah einen Gesetzentwurf für ein Heimerziehungsopferentschädigungsgesetz vorzulegen, das sich an folgenden Eckpunkten orientiert:
● Das Gesetz regelt die Entschädigung ehemaliger Heimkinder, die in den Jahren 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland in stationärer Heimunterbringung lebten.
● Als Anerkennung für das Leiden ehemaliger Heimkinder wird eine monatliche Entschädigungsleistung in Höhe von monatlich 300 Euro oder nach Wahl der Berechtigten eine Einmalzahlung von 54.000 Euro eingeführt. Damit soll für die Betroffenen eine Anerkennung der erlittenen Nachteile und Schädigungen geschaffen werden.
● Die Entschädigungszahlungen erfolgen unabhängig von aktuell noch vorhandenen Folgeschäden. Anknüpfungspunkt ist allein das den Betroffenen zugefügte persönliche Unrecht.
● Für besonders geschädigte ehemaliger Heimkinder soll bei Glaubhaftmachung ihrer besonderen Schädigung eine höhere Einmalzahlung oder Opferrente möglich sein.
● Neben den öffentlichen, privaten und kirchlichen Trägern der Heime werden auch Betriebe, die Heimkinder beschäftigten, an der Finanzierung angemessen beteiligt.
● Die Entschädigungszahlungen sind unabhängig von anderen Ansprüchen und nicht auf sie anrechenbar. Der Anspruch ist unpfändbar und nicht vererbbar;
2. dem Deutschen Bundestag zeitnah eine angemessene Umsetzung der Vorschläge des Runden Tisches (mit Ausnahme der Empfehlungen zu den individuellen Entschädigungsleistungen) vorzulegen;
3. dem Deutschen Bundestag möglichst zeitgleich eine Lösung vorzuschlagen, wie auch ehemaligen Heimkindern mit Behinderung, ehemaligen Heimkindern aus der DDR und ehemaligen Heimkindern, deren Heimzeit in den 40er-Jahren lag, eine gleichwertige Anerkennung zugebilligt werden kann;
4. die Empfehlung des Runden Tisches nach einer Entschuldigung umzusetzen. Die Bundesregierung bittet im Namen der beteiligten staatlichen Institutionen um Entschuldigung. Die Kirchen und Privatheime werden aufgefordert, um Entschuldigung zu bitten.
Berlin, den 8. Juni 2011
Dr. Gregor Gysi und Fraktion
* Wird nach Vorliegen der lektorierten Druckfassung durch diese ersetzt