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e. Lebensgeschichtliche Folgen der benannten neuropsychologischen Schadenslagen
Das Ausbleiben entscheidender Entwicklungsreize in sensiblen-/kritischen Entwicklungsphasen und das traumatisch Schädigende hat Folgen für die gesamte Einwicklung der ehemaligen Heimkinder: Folgen, die an dieser Stelle als Eigenstandsschaden diskutiert werden. Die Heimkinder stehen in mehrfacher Hinsicht nicht auf der Höhe ihrer phylogenetischen Entwicklung.
■ Grundlegende Kompetenzen der höheren (exekutiven) Informationsverarbeitung sind allgemein nicht entwickelt.
■ Von anderen ausgesandte sozialen Signale können für die eigene Entwicklung im Besonderen nicht genutzt werden.
Dies wiederum hat massive Folgen für die Lebensgeschichte und die rechtliche Teilhabe der Opfer.
■ Ein durch verhinderte und schädigende Entwicklungsbedingungen erworbenes Defizit an Kompetenzen der höheren Informationsverarbeitung beeinträchtigt die Feinabstimmung der zwischenmenschlichen Kommunikation, die eine Voraussetzung für einen optimal sozialverantwortlichen Umgang mit anderen Menschen ist.
■ Insofern betrifft die Schädigung des heimaufgezogenen Menschen nicht nur ihn selbst im Sinne des Verlustes eigenständiger Lebenskompetenzen, sondern auch seiner Mitmenschen, für den er aufgrund dieses eigenen Verlustes ein nur eingeschränktes Potenzial sozialverantwortlichen Handelns aktivieren kann.
Dieses beschädigte Potential der persönlichen Lebensführung und der rechtlichen Teilhabe zeigt sich auch darin, dass ehemalige Heimkinder unter den oben angesprochenen unterschiedlichen traumatisierenden Bedingungen Persönlichkeitsdisposionen entwickeln, in welchen sich die oben beschriebenen Schadenslagen abbilden und zu selbsterklärenden Teilhabeverlusten führen. Insbesondere zu nennen sind:136 Merkmale desinhibierten Annäherungsverhaltens,137 Pseudoautistischer Dispositionen,138 ADHS-ähnlicher Symptomatik,139 Merkmale einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, Depressiver Symptomatiken und das Syndrom der Posttraumatischen Belastungsstörung.
Es zeigte sich bei vielen ehemaligen Heimkindern, die heute zum Zweck der Begutachtung untersucht wurden, eine tendenzielle Gewichtung bei den unmittelbar nach der Geburt Heimdeprivierten hin zu einem eher internalisierenden140 Reaktionstyp mit angepasstem, tendenziell überangepasstem Verhalten. Bei denen, deren Heimeinweisung auf eine Zeit nach dem 2. Lebensjahr zu datieren ist, kommt es zu einem eher externalisierenden Reaktionstyp mit paranoid-schizoid-negativistischer Einfärbung.
Dies kann wie folgt interpretiert werden: Für erstere ist das persönlichkeitsbildende Merkmal der Bindungsdeprivation in der Säuglings- und Kleinkindzeit maßgeblich, mit der Folge einer Tendenz zu bindungssuchendem Verhalten. Bei Letzteren wirkt das früh erlebte massive Trauma des Bindungsverlustes nach. Diese Tendenz fand sich auch in einer Untersuchung an ehemaligen deutschen Heimkindern141 und aktuell an jungen Flüchtlingen.142 Zusammenfassend
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kann festgestellt werden, dass ehemalige Heimkinder in den 1950er bis 1970er Jahre unter Lebensbedingungen aufwuchsen, die keinem Säugetier zugemutet werden, nämlich ohne unmittelbar Fürsorge und Sozialisation. Dies hatte lebenslange Folgen:
■ Es entwickelten sich neuronale Netzwerkstrukturen des Gehirns, die den Betroffenen die Nutzung der am höchsten entwickelten Formen der kognitiv-emotionalen Informationsverarbeitung nach dem Stand der phylogenetischen Entwicklung verunmöglichen.
■ Nach heutigem Forschungsstand ist dies wie folgt zu kennzeichnen. Ihr „inneres Milieu“ – nach der Terminologie von Dirk Hartmann – ist durch eine Dominanz (an)triebsorientierter gegenüber zweckorientierten Formen der Informationsverarbeitung bestimmt. Fähigkeiten der flexiblen Zweckorientierung bei der Verfolgung von Zielen im Denken und Handeln sind gegenüber der Wirkung von antriebsmodulierten inneren und äußeren Stimuli nicht invariant (vgl. „Zweck- /Triebkonflikt“ bei Hartman143 ).
■ Weitere Verschiebungen in Dichotomien der Informationsverarbeitung in Richtung einer geringeren Differenziertheit der Informationsverarbeitung lassen sich in dem neuropsychologischen Modell der stimulus driven- vs. context driven processes (McGuiness und Pribram),144 in der Persönlichkeitspsychologie als animative vs. agentive Informationsverarbeitung (Prinz)145 und in der Kognitionswissenschaft als Dominanz des „schnellen Denkens“gegenüber dem „langsamen Denken“ (Kahnemann)146 finden.
Diese auf mehreren Ebenen beschreibbaren Defizite haben ihre Ursachen in der unzureichenden und fehlerhaften Entwicklung der neuronalen Netzwerke der Heranwachsenden. Diese Fehlentwicklung der Netzwerke wurde verursacht durch ausbleibende, vernachlässigende Stimulation in spezifischen Entwicklungsphasen (Typus experience dependant) und/oder durch die Stimulation mit schädigend-misshandelnden traumatischen Bedingungen (Typus experience dependant, s.o.).
Eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur diskutiert die Ergebnisse neurobiologischer Forschung insbesondere an ehemaligen rumänischen Heimkindern. Ein immer wieder replizierter Befund ist die Störung frontaler Netzwerkstrukturen mit den Funktionen der Kontextverarbeitung und Reaktionsinhibition.147 Diese auch durch bildgebende Verfahren gestützten Befunde148 dokumentieren, dass Heimkindern der damaligen Zeit durch aktives Handeln der damaligen Akteure (Aufsichtspersonal, Erzieher, Ärzte, Administration) der Zugang zu den nach dem Stand der phylogenetischen Entwicklung des Menschen höchstmöglichen Denk- und Handlungsprozessen verwehrt wurde.
Zusammenfassend kam es im Einflussbereich der Heime bei den ehemaligen Heimkindern149 zu einer „Einformung traumatisierender Erfahrungen in die neuronale Struktur des menschlichen Gehirns […]. Die damit verbundenen Schädigungen des Eigenstandes dürften umso höher zu veranschlagen sein, je früher diese Erfahrungen gemacht werden und in die hochdifferenzierte Organisation frühstkindlicher Interaktionen eingehen und so wichtige Schemata menschlichen Weltumgangs (Beziehungsschemata, Personenschemata, Objektschemata, Weltschemata) beschädigen.“150
Die trauma- oder deprivationsbedingte Verhinderung sozialen Lernens und zwischenmenschlicher Empathie bricht das Recht auf Erziehung diesseits von den Überstimulation und Deprivation und kann auch heute als neurowissenschaftliche Basis jugendamtlicher Kriterien für die Gefährdung des Kindeswohls gelten. Auf Grundlage dieser Kriterien tritt man dem deutschen Heimsystem nicht zu nahe, wenn man in ihm Vorgänge einer staatlich installierten Kindeswohlgefährdung erblickt und daher – unbeschadet seiner De-jure-Funktion im Horizont der Kinder- und Jugendhilfe der 50er und 60er Jahre – die Möglichkeit eines faktischen Unrechtssystems ebenso bedenken müsste, wie einen gesamtgesellschaftlichen Schaden für die Gestaltung des Verfassungsalltags.
Denn ein funktionierender demokratischer Rechtstaat ist darauf angewiesen, dass durch ihn nicht nur die ökonomischen, sondern auch die psychosozialen und schlussendlich neuronalen Voraussetzungen seiner eigenen Rechtsstaatlichkeit durch die Ausgestaltung eines an ihm orientierten Rechts auf Erziehung stabil gehalten und nicht etwa durch ihn selber beschädigt werden.
(11) Die oben beschriebenen Folgen und Handlungen begründen bei den Betroffenen sowohl Ansprüche auf Schmerzensgeld als auch weitere Schadensersatzansprüche. Diese sind sowohl gegen die damaligen Träger als auch gegen den Staat selbst geltend zu machen.
Die neuropsychologischen Folgen der Handlungen bzw. staatlichen Unterlassungen der Heimaufsicht manifestieren sich in der Minderung der Erwerbsfähigkeit, die sich typischerweise auch etwa im Nachgang zu Unfällen ergeben.151 Diese erfassen nach §§ 253, 249 BGB etwa die Erstattung der Kosten für Eigenanteile an Hilfs- und Heilmitteln sowie Medikamenten, Haushaltshilfen und nicht zuletzt dem Verdienstausfall bei Selbstständigen oder Lohnausfall bei Angestellten. Der zu ersetzende Verdienstausfall errechnet sich aus der Differenz zwischen dem erhaltenen und ohne Unfall gezahlten höheren Lohn. Weiterhin sind sog. vermehrte Bedürfnisse, etwa laufende Ausgaben für bessere Verpflegung, Aufwand für Pflegepersonal, Mehraufwendungen für Wohnsitznahme an einem anderen Ort und erhöhte Ausbildungskosten, schadensersatzfähig; hinzuzusetzen sind Aufwendungen für Nachteilsausgleiche im beruflichen Fortkommen.152 Schadensersatzfähig sind auch psychische Folgenschäden aus Rechtsverletzungen,153 dazu gehört sogar eine aus einer vorab bestehenden seelischen Labilität heraus anlässlich des Vorfalles entstehende Neurose154 . Die Verantwortung des Schädigers ist daher weit für sämtliche Folgeschäden, die adäquat in Zusammenhang mit dem schädigenden Ereignis stehen, gefasst.155
Die vorgenannten exemplarischen Einzelpositionen des Schadensersatzes, die regelmäßig für Verkehrsunfallfolgen und Folgen von Körperverletzungen im Strafrecht entwickelt worden sind, beanspruchen wegen der hier dargelegten Gleichartigkeit der physischen und psychischen Fortwirkung für die Betroffenen bis auf den heutigen Tag direkte Anwendung auf die Rechtsverletzungen des damaligen Heimsystems.
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Sämtliche Voraussetzungen für die tatsächliche Ersatzpflicht erfüllen daher Träger und Staat gleichermaßen durch die damalige Praxis der Heimunterbringung. Vorauszuschicken ist die Grundüberlegung der bis heute und auch in Zukunft fortbestehenden Notwendigkeit der Schadensersatz- und Schmerzensgeldleistung. Dies begründet sich in der massiven physischen und psychischen Beeinträchtigung der Betroffenen, die deren ganzes Leben weiterhin und umfassend dominieren.
(a) Einer gerichtlichen Durchsetzung der vorgenannten Ansprüche der Heimkinder steht jedoch die Einrede der Verjährung gem. § 214 BGB seitens der damaligen, heute noch in Form der Träger rechtlich und tatsächlich fortbestehenden Schädiger entgegen.
Alle Schadensersatzansprüche unterliegen der Verjährung gem. § 194 BGB; nach Ablauf der Verjährungsfrist kann der Schadensersatz verweigert werden. Davon erfasst werden zum einen die Ansprüche gegen die verantwortlichen Träger der Jugendhilfe nach § 823 I, II BGB direkt. Zum anderen gilt dies auch für Ansprüche gegen den Staat aus Amtshaftung nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG aufgrund unterlassener effektiver Kontrolle und Unterbindung der Misshandlungen in den Trägereinrichtungen.
In Deutschland gelten Verjährungsfristen von drei Jahren nach Tatbegehung bzw. Erkennung und einer maximalen Verjährung von 30 Jahren. Die hier genannten Vorfälle haben sich soweit regelmäßig vor dem Jahr 1979 ereignet und sind verjährt. Eine rückwirkende gesetzliche Bestimmung zur Aufhebung der Verjährung für bereits eingetretene Verjährungen ist nicht zulässig. Ein in diese Richtung gehender Gedanke ist daher zu verwerfen.
Grundsätzlich bietet daher das geltende Recht bei formeller Anwendung den Schädigern eine Verjährungseinrede an. Diese kann, muss aber nicht unbedingt vorgebracht werden: theoretisch wäre es daher möglich, gerichtlich Ansprüche auf Schadensersatz durchzusetzen, wenn die beklagten Träger bzw. der Staat auf diese Einrede verzichten würden. Mangels Vorhersehbarkeit der tatsächlichen Einredeerhebung wäre jedoch in der anwaltlichen Beratung von Mandanten von einem Prozess abzuraten.156
Allein außergerichtlich könnte daher in gegenseitigem Einvernehmen eine solche Verzichtserklärung erfolgen; angesichts der bisherigen Ergebnisse der „Runden Tische [Heimerziehung]“ für den Bereich eines finanziellen Bedenkens der individuellen Heimerziehungsfolgen157 ist dies nicht realistisch.
(b) Wegen der besonders gelagerten Fälle sieht sich der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 I GG und der Wahrung des Rechtstaatsprinzips des Grundgesetzes in Art. 20 III einer bislang nicht aufgetretenen Herausforderung gegenüber gestellt:
(aa) Die durch Misshandlung kausal verursachten psychischen Schäden manifestieren sich regelmäßig erstmalig erkennbar mit dem Erreichen des späten Erwachsenen- oder sogar Rentenalters. Tatsächlich waren und sind viele Beeinträchtigungen der Betroffenen wegen der unterschiedlichen psychologischen (Wechsel-) wirkungen und der Besonderheit der Vernächlässigungs- und Misshandlungsfolgen nicht erkannt bzw. müssen erst diagnostiziert werden. Diese Ergebnisse müssen im nächsten Schritt den Betroffenen so kommuniziert werden, dass diese verstanden und daraus die zutreffenden rechtlichen Schlüsse gezogen werden können.
Die wissenschaftliche Forschung hinsichtlich der Nachwirkungen der Heimunterbringungen ist noch nicht abgeschlossen. Zivil- und öffentlich-rechtlich tritt wegen der langen „Inkubationszeit“ dieser besonderen, bis dato nicht erkannten und subjektiv nicht erkennbaren Schadenslage und Schadensursächlichkeit eine gesetzlich bislang nicht bekannte und daher nicht normative erfasste Konstellation ein.
Die Frage stellt sich daher nach dem Umgang mit dieser Schadensmanifestation. Entscheidend schlagen die im Nachgang zu den Misshandlungen beschriebenen psychischen Blockaden der Opfer auf die Fähigkeit zur eigenständigen Rechtsverfolgung gegen die Schädiger durch. Die Betroffenen hatten im Einzelfall weder physisch noch psychisch die Möglichkeit, ihr Rechte auf Rechtliches Gehör und einer Zugangs zu Gericht zu realisieren.
(bb) Zu erwägen wäre in diesem Zusammenhang an eine Hemmung der Verjährung wegen „höherer Gewalt“ im Sinne von § 206 BGB. Definiert ist der Begriff der höheren Gewalt als ein von außen kommendes, keinen betrieblichen Zusammenhang aufweisendes, auch durch äußerste vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht abwendbares Ereignis.158
Die systematischen Misshandlungen und die Folgen können unter diesen Tatbestand subsumiert werden. Denn: Vernachlässigung und Misshandlung erfolgen in Form von unvorhergesehenen äußeren Einflüssen, hier durch die Handlungen der Heimleitungen und der Belegschaft der Heime. Diese Ereignisse waren auch durch äußerste Sorgfalt der Betroffenen nicht vermeidbar. Entscheidend ist jedoch, dass das zeitliche Moment der höheren Gewalt nicht unbegrenzt gilt. Vielmehr gilt die Frist, wie im vor der BGB-Novelle 2002 existenten Recht, nur für 6 Monate vor Ende der Verjährung. Erforderlich für eine erfolgreiche gerichtliche Durchsetzung der Ansprüche wäre aber eine vollständige Hemmung der Verjährungsfristen bis zum Tage der Manifestation des Schadens bei den Betroffenen.
Zu verwerfen ist die Erwägung einer verfassungskonformen Auslegung durch analoge Anwendung der Hemmungsvorschrift durch Ignoranz der 6-Monatsfrist. Voraussetzung einer Analogie ist die Übertragung der gesamten Vorschrift auf den Fall, sofern eine planwidrige Regelungslücke vorliegt und eine vergleichbare Interessenlage die Anwendung ermöglicht.159 Hier käme dies einer Anwendung contra legem gleich und ist daher nicht zulässig.
(cc) Daher bliebe im Ergebnis möglich die Etablierung eines verfassungsrechtlich gebotenen und noch nicht normierten außergesetzlichen Hemmungstatbestandes. Dieser Überlegung zugrunde liegt die Erwägung, dass ohne Schutz der Betroffenen vor Verjährung die in Art. 6 II GG und in §§ 8a, 42 SGB VIII normierte Wacht der Gemeinschaft über das Kindswohl und in diesem Zusammenhang auch das Rechtstaatsprinzip nach Art. 20 III GG leer laufen würden.
Das im Grundgesetz verankerte Rechtstaatsprinzip verpflichtet den Gesetzgeber bzw. die rechtsprechende Gewalt, dem Bürger eine effektive Rechtsausübung zu ermöglichen.160 Anknüpfungspunkt ist dazu der Gedanke der Kehrseite der Wahrung des Gewaltmonopols durch vollständige staatliche Abdeckung aller Aspekte einer erforderlichen Rechtsdurchsetzung.161
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Vorgeschaltet ist dieser Überlegung notwendigerweise die im erforderlichen Umfang nötige Kenntniserlangung der Ursachen und die korrekte Diagnose der für die Begründung des Anspruches gegebenen persönlichen Beeinträchtigungen. Ohne Kenntnis dieser Tatsachen ist schlechterdings keine Rechtsbeanspruchung durch die Betroffenen denkbar. Die Kausalitätsbestimmung der aktuell bei den Betroffenen vorliegenden Symptome zur jahrzehntelang zurückliegenden Heimunterbringung ist nicht ohne Spezialkenntnisse bzw. psychologischer Beratung möglich: der Verlauf der Erkrankungen ist schleichend und nicht ohne spezielle Kenntnisse auf die –teilweise den Betroffenen nicht mehr bewussten bzw. verdrängten – Misshandlungen und Vernachlässigungen zurückzuführen. Vielmehr sind den Betroffenen erst eine Aufarbeitung der Geschehnisse durch psychologische Hilfestellung möglich. Daher ist dem Gebot der Effektivität des Rechtstaatsprinzips162 und dem mit wirkenden Schutzgedanken der staatlichen Wächterrolle nach Art. 6 II GG gegenüber den Schädigern Geltung zu verschaffen. Rechtlich und tatsächlich kann die Aufgabe der Wächterrolle des Staates über das Familien- und Kindswohl nach Art. 6 II GG auch im Recht des JWG der 50er bis 70er Jahre nur im positiven Sinne gegenüber dem damals sogenannten „Mündel“ verstanden werden.163 Der Staat als Schädiger im Sinne einer nicht effektiv wahrgenommenen Heimaufsicht mit der Folge einer Pflichtverletzung durch nicht durchgesetzte Unterbindung der Misshandlungen und Realisierung pädagogisch-wissenschaftlich fundierter Erziehung stellt sich außerhalb das Grundgesetzes und handelt damit verfassungswidrig.
Einer verfassungswidrigen Begünstigung der Schädiger gleich käme daher die formaljuristische Anwendung der maximalen Verjährungsfristen auf die Tathandlung als Anknüpfungspunkt. Ein solcher vordergründiger Formalismus ist vom Verfassungsgeber eben nicht gewollt: der Ermöglichung der Anspruchsdurchsetzung vor Gericht kommt höchster Verfassungsrang zu.164 Nachrangiges einfaches Recht hat sich an diesen höchstrangigen Vorgaben gem. Art. 1 III GG zu orientieren. Aus den dazu verfassungsrechtlich gebotenen Effizienzgründen heraus muss der Zeitpunkt der individuellen Fähigkeit zur Ursachenerkenntnis als Verjährungsbeginn herangezogen werden. Denn ohne Einräumung der effektiven Nutzung des Rechtschutzes würden die streitgegenständlichen Handlungen der Träger von den Opfern nicht überprüft werden können. Voraussetzung der Wahrung der Menschenwürde nach Art. 1 I GG unter Vermeidung der verfassungswidrigen Degradierung der Opfer auf ein bloßes Subjekt165 ist aber gerade die effektive rechtliche „Sprachfähigkeit“ der Betroffenen im Sinne von Art. 19 IV GG.166
Dies kann wie folgt denkbar sein:
■ Begutachtung zur individuellen Erlangung der Fähigkeit der Rechtswahrnehmung;
■ Dazu einfließend die erstmalige bewusst erfolgende Erkenntnis über das Auftreten von wissenschaftlich anerkannten Folgesymptome;
■ Erstmalige mögliche individuelle Kenntnisnahme der Ursächlichkeit zwischen Heimaufenthalt und den aufgetretenen Folgesymptomen;
■ Verjährungsbeginn bei vollständiger Kenntnis bzw. abschließender Vorlage der Dokumentation aus Heim- und ggfs. Klinikaufenthalten.
Erst in der Folge ist die Bestimmung des Schadensumfanges zu diskutieren.
(c) Effektiver und für die Betroffenen rechtssicherer gestaltet sich daher zur Vermeidung der Gestaltung einer forensischen und unsichereren neuen rechtlichen Hemmungsfigur eine Änderung des geltenden OEG.
Das OEG dürfte daher bei einem staatlichen Verschulden legislativ geöffnet werden für die Leistung von Schadensersatzansprüchen und Zahlung von Schmerzensgeld.
Daher wäre im OEG eine Erweiterung der Beweiswirkung von ärztlich festgestellten psychischen Schäden im Rahmen einer gesetzlichen Kausalitätsvermutung bei nachweislichen Heimaufenthalten in den Jahren 1950-1975 anzustellen.
V. Eigenstandsschaden und Verfassungsalltag – Zusammenfassung
Die hier beschriebenen Kriterien eines Eigenstandsschadens erfassen nicht nur Angriffe auf die leiblichen und psychischen Bedingungen der Möglichkeit menschlichen Eigenstands, menschlicher Freiheit und damit der menschlichen Würde selbst.
Unter der Bedingung der in Abschnitt IV beschriebenen lebensgeschichtlichen Schadenslagen bleibt der Mensch mit gesellschaftlich unabsehbaren Konsequenzen167 unter den ihm von der Verfassung garantierten Möglichkeiten zurück: Grundrechtlich höchstgradig geschützte Rechtsgüter bleiben ungelebt oder können wegen der umfassenden neuropsychischen Störungen nicht oder nur beschädigt geltend gemacht werden, wie z.B. die Fähigkeit andere Menschen als gleichwertig zu erleben (Art. 3 GG), eine Religion zu haben (Art 4. GG), seine Meinung angstfrei frei zu äußern (Art. 5 GG), Ehe- oder Familienleben verantwortlich zu gestalten und Kinder zu erziehen (Art. 6 GG), eine erfolgreiche Schullaufbahn zu bewältigen (Art. 7 GG), öffentlich angstfrei zu demonstrieren (Art. 8 GG), sich in Vereinen zu organisieren (Art. 9 GG), private Kommunikation zu gestalten (Art. 10 GG), sich frei im öffentlichen Raum bewegen zu können (Art. 11 GG), berufstätig sein zu können (Art. 12 GG), sich mit dem Verfassungsstaat identifiziert und sozialverpflichtet zu fühlen (Art. 13 GG), eine eigene Wohnung zu gestalten (Art 14 GG), Eigentum zu erhalten und für die Erben zu sichern (Art. 15 GG).
Die Kriterien des Eigenstandsschadens markieren daher hinaus Beschädigungen der Fähigkeit, das Persönlichkeitsrecht geltend zu machen und einen eigenen Beitrag zur rechtsgeschichtlichen Kontinuität des Verfassungsalltags bzw. der faktischen Wirksamkeit der Verfassung zu leisten. Um sich einen Überblick in Hinblick auf das diesbezügliche komplexe Zusammenspiel zwischen neurowissenschaftlichen, psychologischen, rechtlichen und rechtsgeschichtlichen Gesichtspunkten des vorliegenden Beitrags zu verschaffen verweisen wir auf die anhängte Grafik, wobei besonders auf den Zusammenhang zwischen gesellschaftlich multiplizierten Eigenstandsschädigungen und dem Risiko eines Erlöschens grundgesetzförmiger Habitate, sowie der faktischen Geltung auf sie bezogener Rechtstraditionen verwiesen wird.
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[ Die erwähnte relevante „angehängte Grafike“ ist auf SEITE 16 dieses PDF-Dokuments zu finden. ]
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[ Fußnoten: ]
136 Vgl. Eilert, Psychologie, wie Anm. 1, 870-899.
137 Vgl. Sonuga-Barke, E.J.S, Kennedy, M., Kumsta, R., Knights, N., Golm, D., Rutter, M., Maughan, B., Schlotz, W., Kreppner, J. (2017): Child-to-adult neurodevelopmental and mental health trajectories after early life deprivation – the young adult follow-up of the longitudinal English and Romanian Adoptees study. Lancet 2017 Apr. 15;389(10078), 1539-1548.
138 Vgl. ebd.
139 Vgl. Kennedy, M., Kreppner, J., Knights, N., Kumsta, R., Maughan, B., Golm, D., Rutter, M., Schlotz, W., Sonuga-Barke, J.S. (2016): Early severe institutional deprivation is associated with a persistent variant of adult attention-deficit/hyperactivity disorder – clinical presentation, developmental continuities and life circumstances in the English and Romanian Adoptees study. Journal of Child Psychology and Psychiatry 57: 10, 1113-1125.
140 Internalisierender Reaktionstyp: eher auf die eigene Person gerichtet, z.B. depressives Verhalten; externalisierender Reaktionstyp: eher nach außen gerichtet, z.B. hyperkinetisches Verhalten, aggressives Verhalten; vgl. Laucht, M., Esser, G., Schmidt, M.H. (2000): Externalisierende und internalisierende Störungen in der Kindheit – Untersuchungen zur Entwicklungspsychopathologie. Zeitschrift für Klinische und Psychotherapie 29(4). 284-292.
141 Ürek, C. (2015): Folgen von frühkindlichem Missbrauch und Deprivation in Heimen auf die Cortisolausschüttung und Persönlichkeitsmerkmale im mittleren Erwachsenenalter. Unveröff. Masterarbeit, Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Psychologie, Abt. für Genetische Psychologie (Publ.i.Vorber.).
142 Hierzu auch Buchmüller, T., Lembke, H., Busch, J., Kumsta, R., Leyendecker, B. (2018): Exploring mental health status and syndrome patterns among young refugee children in germany. Front Psychiatry 9:212.
143 Vgl. Hartmann, Philosophische, wie Anm. 75, 256.
144 Vgl. McGuiness, Pribram, The neuropsychology, wie Anm. 86.
145 Vgl. Prinz, Selbst im Spiegel, wie Anm. 83.
146 Vgl. Kahnemann, Schnelles Denken, wie Anm. 89.
147 Vgl. Nelson, Romania`s, wie Anm. 16, 154-181; vgl. Bilgin, Neurobiologische, wie Anm. 84; vgl. Sonuga-Barke, Child-to-adult, wie Anm. 86; vgl. Kennedy, Early severe, wie Anm. 88.
148 Vgl. Nelson, Romania`s, wie Anm. 16, 182-210.
149 Vgl. Eilert, Psychologie, wie Anm. 1, 895-899.
150 Vgl. Eilert, Psychologie, wie Anm. 1, 895f¸ Heinrichs, M., von Dawans, B., Domes, G. (2009): Oxytocin, vasopressin, and human social behavior. Frontiers in Neuroendocrinology. 30:548-557; Kirsch, P., Essinger, C., Chen, Q., Mier, D., Lis, S., Siddhanti, S., et al. (2005): Oxytocin modulates neural circuitry for social cognition and fear in humans. The Journal of Neuroscience 25:11489-11493.
151 BSG, Urt. v. 02.05.2001, Az.: 2 U 24/00 R.
152 BGH VersR 98,770; OLG Köln, VersR 89, 755.
153 BGH, DAR 1998,63; Urt.v. 30.4.1996, Az.: VI ZR 55/95; Ders. Urt. vom 16.03.1993; Az.: VI ZR 101 / 92; BGHZ 93, 351 (355).
154 BGHZ 93, 351 (355).
155 BGHZ 3, 261.
156 BGH, NJW 1994, 1211, (1212).
157 Zusammenfassend dazu: Kappeler, Manfred (2012). Die Asymmetrie der Macht am Runden Tisch Heimerziehung. Widersprüche: Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, 32(123), 83-104, abrufbar unter: https://www.ssoar.info/ssoar/b…r_Macht_am.pdf?sequence=1 (Tag des Abrufes 31.05.19). [ Länge: insgesamt 13 Seiten ]
158 BGHZ 100, 157.
159 BGH, Urt. v. 4.12.2014, Az.: III ZR 61/14.
160 BVerfGE 101, 397 407.
161 Werner, Olaf, Staatliches Gewaltmonopol und Selbsthilfe im Rechtsstaat, 1999, 500.
162 Krüger /Sachs in: Sachs, Kommentar zum Grundgesetz, 2017, Art. 19 IV Rn. 143.
163 Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, WD 7 – 058 / 07.
164 BVerfGE 61, 82 (109, 113).
165 BVerfGE 30, 1 (25).
166 BVerfG, Urt. v. 3.3.2004, Az.: 1 BvR 2378/98, Rnn. 193, 194, 291; BVerfGE 100, 313 (361).
167 Vgl. Eilert, Psychologie, wie Anm. 1, 899-912.
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