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Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums für Gesundheit vom 18. April 2018 übermittelt.
Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext.
Deutscher Bundestag - Drucksache 19/1772
19. Wahlperiode - 20.04.2018
Antwort
der Bundesregierung
auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sylvia Gabelmann, Susanne Ferschl, Simone Barrientos, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 19/1520 –
Aufklärung der Medikamentenversuche an Heimkindern und mögliche Entschädigungsleistungen an Betroffene
Vorbemerkung der Fragesteller
Laut einer Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste (WD) des Deutschen Bundestages mit dem Titel „Durchführung von Arzneimittelstudien an Heimkindern von 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland“, die auf Bitten der Fraktion DIE LINKE. erstellt wurde, lebten zwischen 1949 und 1975 in der Bundesrepublik Deutschland etwa 700 000 bis 800 000 Kinder und Jugendliche in Heimen. Anderen Angaben zufolge könnten es auch bis zu eine Million Kinder und Jugendliche gewesen sein, die zwischen 1945 und 1975 gezwungen waren, in Heimen zu leben (vgl. http://www.veh-ev.eu/home/vehe…blic_html//?tag=die-linke).
Seit einigen Jahren hat die Misshandlung minderjähriger Heimbewohnender in diesem Zeitraum auch in der Öffentlichkeit Beachtung gefunden. So richtete die Bundesregierung im Jahr 2009 den [RTH] „Runden Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ ein. Dessen Empfehlungen sowie auch der nachfolgende Bericht zur „Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR“ führten laut der WD dazu, dass im Jahr 2012 die Hilfsfonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ und „Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990“ geschaffen wurden. Zudem soll die 2017 von der Bundesregierung, den Bundesländern sowie der katholischen und der evangelischen Kirche errichtete Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ Entschädigungen an die Betroffenen entrichten, die als Kinder und Jugendliche in dem durch die beiden Hilfsfonds abgedeckten Zeitraum in Einrichtungen der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie untergebracht waren.
Der Einsatz von Medikamenten in der Heimerziehung sowie Arzneimittelstudien in Heimen ist vom Runden Tisch [RTH] nur wenig thematisiert worden. Erst durch die 2016 von der Pharmazeutin Sylvia Wagner veröffentlichte Studie „Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte. Arzneimittelstudien an Heimkindern“ (s. http://duepublico.uni-duisburg…42079/04_Wagner_Heime.pdf) wurde bekannt, dass mindestens 50 Arzneimittelstudien an Heimbewohnern durchgeführt wurden, z. T. im Auftrag oder mit Wissen von Behörden. Dabei wurden neben Impfstoffen und Psychopharmaka auch Medikamente zur Senkung der Libido getestet, laut Wagner konnten keine Einwilligungen der Betroffenen bzw. ihrer gesetzlichen Vertreter gefunden werden. Das gesamte Ausmaß sei bislang nicht zu beziffern.
Vorbemerkung der Bundesregierung
Vor 1961 fehlte in der Bundesrepublik Deutschland eine umfassende gesetzliche bundesrechtliche Regelung für die Herstellung von und den Verkehr mit Arzneimitteln. Das Arzneimittelgesetz von 1961 (AMG 1961) löste die vorher geltenden Polizeiverordnungen der Länder vollumfänglich ab. Die Länder sind gemäß den Artikeln 83 ff. des Grundgesetzes grundsätzlich für den Vollzug der arzneimittelrechtlichen Regelungen zuständig. Die Zuständigkeit in den Ländern richtete sich nach dem jeweiligen Landesorganisationsrecht.
Das AMG 1961 und die früheren gesetzlichen Regelungen sahen weder Regelungen für die Zulassung von Arzneimitteln noch für klinische Prüfungen vor. Erst im Jahr 1976 wurden Regelungen zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit verabschiedet, die am 1. Januar 1978 in Kraft traten. Seit dieser Zeit werden ein Zulassungsverfahren und ein klinischer Wirksamkeitsnachweis für Fertigarzneimittel gefordert sowie Schutzvorschriften für Probanden in klinischen Studien und für Patienten geregelt.
Das Bundesministerium für Gesundheitswesen wurde im Jahr 1961 errichtet. Zuvor fiel das Arzneimittelrecht in den Geschäfts- und Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums des Inneren (BMI). Das „Institut für Arzneimittel“ wurde als Teil des ehemaligen Bundesgesundheitsamtes (BGA) im Jahr 1975 gegründet.
Dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) sind keine Unterlagen zu Arzneimittelstudien an Kindern in Heimunterbringung zu Zeiten des BGA bekannt. Das PEI war bis zum 31. Oktober 1972 eine Landesbehörde, die Chargenfreigaben für Impfstoffe durchführte. Zudem war das PEI zu keinem Zeitpunkt Teil des BGA und kann insofern keine Aussage dazu treffen, ob Impfstoffprüfungen mit Kenntnis oder auf Anordnung des BGA erfolgten. Auch dem Robert Koch-Institut sind Unterlagen zu Arzneimittelstudien an Kindern in Heimunterbringung zu Zeiten des BGA nicht bekannt.
Der Runde Tisch „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ (RTH) hat sich mit dem Einsatz von Medikamenten und mit Medikamentenversuchen in der Heimerziehung auseinandergesetzt, nachdem ehemalige Heimkinder berichtet hatten, dass sie im Heim Psychopharmaka einnehmen mussten. Der RTH hat in seinem Abschlussbericht festgestellt, dass, wenn es in Heimen zu generellen bzw. kollektiven Behandlungen bzw. Sedierungen gekommen ist, die vorrangig der Disziplin im Heim oder gar der Erforschung von Medikamenten zuträglich waren, dies als Missbrauch zu beurteilen sei und auch nach damaligen Maßstäben ggf. den Tatbestand der (schweren) Körperverletzung erfülle (S. 19/20 des RTH-Abschlussberichts).
1. Welche Angaben kann die Bundesregierung über Aktivitäten des Bundesgesundheitsamts (BGA) im Zusammenhang mit Arzneimittelstudien in Heimen machen, und in welchen und wie vielen Fällen war das BGA nach Kenntnis der Bundesregierung Auftraggeber solcher Arzneimittelstudien?
Der Bundesregierung liegen über die in der Vorbemerkung zitierten Publikationen hinaus keine Erkenntnisse über Aktivitäten des BGA im Zusammenhang mit Arzneimittelstudien in Heimen vor.
2. Inwiefern kann die Bundesregierung erklären, warum sie in der Antwort auf die Schriftliche Frage 51 auf Bundestagsdrucksache 18/10443 antwortet, dass dem Bundesinstitut für Arzneimittel und dem Paul-Ehrlich-Institut keine Informationen zu Arzneimittelstudien an Kindern in Heimunterbringung zu Zeiten des BGA bekannt seien, das BGA jedoch anderen Quellen zufolge Auftraggeber mindestens einer solchen Studie war (vgl. Hansen, F.& Müller-Rentzsch, W. (1957). Untersuchungen über die örtliche und allgemeine Reaktion nach Pockenschutz-Erstimpfung, besonders im Hinblick auf die Veränderungen im Blut und Knochenmark, in: Zeitschrift für Kinderheilkunde, 80(2), S. 190-224)?
Dem BfArM waren und sind keine Unterlagen zu Arzneimittelstudien an Minderjährigen in Heimunterbringung zu Zeiten des BGA bekannt.
Das PEI ist seit dem 1. November 1972 eine Bundesoberbehörde. Zuvor war das PEI eine hessische Landesbehörde, die im Sinne einer Dienstleistung Chargenfreigaben für einige Impfstoffe wie beispielsweise die Polio-Impfstoffe durchführte. Im Übrigen wird auf die Vorbemerkung der Bundesregierung verwiesen.
Zu der 60 Jahre alten zitierten Quelle liegen der Bundesregierung keine eigenen Erkenntnisse vor.
3. Welche Informationen hatten das BGA oder Nachfolgebehörden nach neuer Erkenntnis der Bundesregierung auch über nicht vom BGA in Auftrag gegebene Studien in Heimen, und welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über Arzneimittelstudien, die im Auftrag anderer Behörden in Heimen durchgeführt wurden?
Es wird auf die Antworten zu den Fragen 1 und 2 und die Vorbemerkung der Bundesregierung verwiesen.
4. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über Arzneimittelstudien, die von Unternehmen oder anderen Auftraggebern in Heimen durchgeführt wurden, und inwiefern mussten diese genehmigt oder angezeigt werden?
Hinsichtlich einer Anzeige- oder Genehmigungspflicht wird auf § 21 AMG 1961 und dort insbesondere auf die durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vom 23. Juni 1964 (BGBl. I S. 365) eingefügten Absätze 1a und 1b AMG 1961 verwiesen. Mit dem gemäß Artikel 6 dieses Änderungsgesetzes am 28. Juni 1964 erfolgten Inkrafttreten dieser geänderten Vorschrift war bei „der Anmeldung einer Arzneispezialität, die Stoffe in der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein bekannter Wirksamkeit oder deren Zubereitungen enthält, (…) ferner ein ausführlicher Bericht über die pharmakologische und die klinische, in besonderen Fällen die sonstige ärztliche, zahnärztliche oder tierärztliche Prüfung der Arzneispezialität einzureichen“. Gleiches galt nach Absatz 1b dieser Vorschrift auch für Arzneispezialitäten, die eine Zubereitung in ihrer Wirksamkeit allgemein bekannter Stoffe ist, wenn die Wirksamkeit dieser Zubereitung in der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein bekannt war.
Detaillierte inhaltliche Anforderungen an den mit der Anmeldung solcher Arzneispezialitäten einzureichenden Bericht waren in der damaligen Gesetzesfassung nicht enthalten. Insbesondere fehlten seinerzeit gänzlich materielle Vorgaben u. a. für die Durchführung der ärztlichen, zahnärztlichen oder tierärztlichen Prüfung wie sie heute z. B. in den §§ 40 ff. des Arzneimittelgesetzes (AMG) in Bezug auf die Aufklärung, Einwilligung oder den Schutz bestimmter Personengruppen enthalten sind. Eine Genehmigungspflicht bestand nach dem AMG 1961 nicht.
Recherchen der Bundesoberbehörden zu möglichen Unterlagen sind ergebnislos geblieben. Insofern hat die Bundesregierung keine Kenntnisse über solche Arzneimittelstudien.
5. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über eine wissenschaftliche Aufarbeitung von Arzneimittelstudien in Heimen im Rahmen der von Bund, Ländern und Kirchen gegründeten Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ bislang gewonnen, und warum bleibt die Arbeit dieser Stiftung auf Geschehnisse in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe und stationären psychiatrischen Einrichtungen beschränkt?
Plant die Bundesregierung, den Tätigkeitsbereich dieser Stiftung auszuweiten bzw. eine neue Stiftung dafür ins Leben zu rufen?
Die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ wurde von Bund, Ländern und Kirchen zum 1. Januar 2017 als Hilfesystem für Menschen errichtet, die als Kinder und Jugendliche in der Zeit von 1949 bis 1975 (Bundesrepublik Deutschland) bzw. bis 1990 (DDR) in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie Leid und Unrecht erfahren haben und heute noch an Folgewirkungen leiden. Die Gründung erfolgte in Umsetzung eines Beschlusses des Deutschen Bundestags vom 7. Juli 2011.
Soweit im Rahmen der wissenschaftlichen Aufarbeitung Hinweise auf in den betreffenden Einrichtungen durchgeführte Arzneimittelstudien gefunden werden, sollen diese im Rahmen des Projekts als ein Teilaspekt untersucht werden. Zum aktuellen Stand der wissenschaftlichen Aufarbeitung bei diesem Teilaspekt liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor. Die wissenschaftliche Aufarbeitung ist auf drei Jahre angelegt, Zwischenergebnisse sollen zur Hälfte der Laufzeit öffentlich vorgestellt werden.
Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, den Auftrag der Stiftung Anerkennung und Hilfe zu erweitern.
6. Warum wurde mit Unterstützung der Bundesregierung (u. a. über die Bundesbeauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer bzw. mit Bundesmitteln aus der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur) innerhalb kurzer Zeit eine wissenschaftliche Untersuchungskommission eingesetzt, die sich mit Gerüchten über angeblich unethische Arzneimittelstudien westlicher Pharmafirmen in der DDR beschäftigen sollte, und warum erfolgt eine entsprechende wissenschaftliche Aufarbeitung mit Unterstützung der Bundesregierung im Falle der Arzneimitteltests an Heimkindern in der Bundesrepublik Deutschland bislang nicht?
Im Fall der genannten Arzneimittelstudien westlicher Pharmafirmen in der DDR handelte es sich um die Aufarbeitung von Unrechts unter der SED-Diktatur. Die Bundesstiftung Aufarbeitung hat 2013 auf Antrag Fördermittel in Höhe von 24 600 Euro für Begleitveranstaltungen des Forschungsprojektes („Klinische Arzneimittelforschung in der DDR von 1961 bis 1989“), die durch das Institut für Geschichte der Medizin der Charité – Universitätsmedizin Berlin durchgeführt worden ist, bewilligt. Das BMI, bei dem in der vorletzten Legislaturperiode der Beauftragte der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer angesiedelt war, hatte das Projekt aufgrund des hohen öffentlichen Interesses unterstützt. Ziel war es, die Berichterstattungen zu Gerüchten über angeblich unethische Arzneimittelstudien westlicher Pharmafirmen in der DDR zu versachlichen und im Verbund mit anderen Instituten den Sachverhalt aufzuklären. Die Ergebnisse dieser Studie wurden Mitte März 2016 von der Charité der Öffentlichkeit vorgestellt und der Abschlussbericht ist im Handel frei verfügbar.
Der Einsatz von Arzneimitteln in der Heimerziehung wird von den Ländern in ihrer Zuständigkeit aufgearbeitet. Im Übrigen wird auf die Vorbemerkung der Bundesregierung verwiesen.
7. Aus welchen Bundesländern sind der Bundesregierung Arzneimitteltests an Heimkindern bekannt, und welche Verpflichtung hinsichtlich des leiblichen, geistigen und seelischen Wohls der in Einrichtungen untergebrachten Minderjährigen kam nach Wissen der Bundesregierung den zuständigen Behörden auf Landesebene zu, und welche Aufsichtsbehörden waren dies vor 1961 sowie im Zeitraum zwischen 1961 und 1975?
Der Bundesregierung liegen keine Kenntnisse zu „Arzneimitteltests“ an Heimkindern vor. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Einsatzes von Arzneimitteln in der Heimerziehung ist der Bundesregierung aus dem Land Nordrhein-Westfalen bekannt. Hierzu wurde eine „Vorstudie zur Erforschung des Medikamenteneinsatzes in Kinderheimen, Einrichtungen der öffentlichen Erziehung und heilpädagogischen und psychiatrischen Anstalten“ in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse im Mai 2017 den eingeladenen Trägern im Rahmen einer Besprechung vorgestellt wurden.
Im Jahr 1961 wurde mit dem Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) die Heimaufsicht für alle Heime eingeführt, in denen Minderjährige dauerhaft oder zeitweise betreut wurden. Gemäß § 78 JWG führte das jeweilige Landesjugendamt die Aufsicht bezogen auf das leibliche, geistige und seelische Wohl der Minderjährigen über Heime und andere Einrichtungen, in denen Minderjährige dauernd oder zeitweise, ganztägig oder für einen Teil des Tages, jedoch regelmäßig, betreut wurden oder Unterkunft erhielten, unabhängig von deren Trägerschaft.
8. Kann die Bundesregierung Aussagen aus dem schriftlichen Bericht des Bundestagsausschusses für das Gesundheitswesen (vgl. Bundestagsdrucksache 3/2421) bestätigen, dass zumindest bei Wirkstoffen von bisher allgemein unbekannter Wirksamkeit die Hersteller seit 1961 dem BGA einen Bericht über Art, Umfang und Ergebnis von Arzneimittelstudien auszuhändigen hatten?
Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung darüber, dass in solchen Berichten auch über Arzneimittelstudien in Heimen an das BGA berichtet wurde?
Die Anmeldenden von Arzneispezialitäten, die Stoffe oder Zubereitungen von Stoffen mit in der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein bekannter Wirksamkeit enthielten, waren nach § 21 Absatz 1 Nummer 4 AMG 1961 verpflichtet, mit der Anmeldung einen Bericht über Art und Umfang der pharmakologischen und ärztlichen Prüfung der Arzneispezialität und ihre Ergebnisse beizufügen. Das AMG 1961 enthielt jedoch keine Vorgaben an die Aufklärung, die Einwilligung oder den Schutz bestimmter Personengruppen. Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 4 verwiesen.
9. Welche Veränderungen hatte diesbezüglich nach Kenntnis der Bundesregierung die Verankerung einer klinischen Prüfungspflicht von Arzneimitteln im deutschen Arzneimittelrecht durch die zweite Novelle zum Arzneimittelgesetz 1964 gebracht, und was bedeutete diese Novelle für die Prüf- und Aufsichtsbehörde BGA, Einsicht in die Studienunterlagen zumindest von denjenigen Arzneimitteln nehmen zu können, die es bis zur Zulassung schafften?
Welche davon abweichenden Regelungen existierten im Zeitraum zwischen 1945 und 1975 nach Kenntnis der Bundesregierung für Impfstoffe?
Mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vom 23. Juni 1964 (BGBl. I S. 356) wurde neben der Ergänzung des § 21 AMG 1961 um die Absätze 1a und 1b zwar auch das in § 22 Absatz 1 AMG 1961 geregelte Anmeldeverfahren beim BGA geändert. Nach der geänderten Vorschrift des § 22 Absatz 1 AMG 1961 hatte das BGA die Arzneispezialität im Spezialitätenregister einzutragen, wenn „die Anmeldung den Anforderungen des § 21“ entspricht. Wurde Mängeln, zu denen das BGA dem Anmeldenden Gelegenheit zur Abhilfe innerhalb einer angenommenen Frist gegeben hatte, nicht abgeholfen, so hatte das BGA die Eintragung abzulehnen. Das BGA war verpflichtet eine Eintragung vorzunehmen, wenn die Anmeldung den formalen gesetzlichen Anforderungen entsprach (Bundestagsdrucksache IV/1370, S. 4). Es fehlten aber weiterhin materielle bundesgesetzliche Vorgaben u. a. für die Durchführung der Prüfung wie sie heute z. B. in den §§ 40 ff. AMG in Bezug auf die Aufklärung, Einwilligung oder den Schutz bestimmter Personengruppen enthalten sind.
Die Prüfung von Impfstoffen und die Durchführung von Impfungen lag allein in der Verantwortung der Länder und deren Impfanstalten. Im Übrigen wird auf die Vorbemerkung der Bundesregierung verwiesen.
10. Welche Verbindlichkeit haben nach Ansicht der Bundesregierung der Nürnberger Kodex sowie die Deklaration von Helsinki in der damals gültigen Fassung, der zufolge die Interessen von Wissenschaft und Gesellschaft niemals Vorrang vor den möglichen Risiken und dem wahrscheinlichen Nutzen für die Versuchsperson haben dürfen?
Der Nürnberger Kodex setzte, wie auch später die Deklaration von Helsinki, medizinethische Standards, auch wenn diese nicht rechtlich bindend waren.
Gemäß § 15 Absatz 3 der (Muster-) Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte (MBO-Ä) haben Ärztinnen und Ärzte bei der Forschung am Menschen nach § 15 Absatz 1 MBO-Ä die in der Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes in der Fassung der 64. Generalversammlung 2013 in Fortaleza niedergelegten ethischen Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen zu beachten. Diese Regelung ist in den meisten Berufsordnungen der Landesärztekammern entsprechend übernommen worden. Wenige Berufsordnungen verweisen noch auf die Fassung der 59. Generalversammlung 2008 in Seoul oder nehmen allgemein Bezug auf die Deklaration von Helsinki ohne Bezug auf eine bestimmte Fassung.
11. Inwiefern stimmt die Bundesregierung dem Medizinhistoriker Prof. Heiner Fangerau zu, dass die Arzneimittelstudien an Heimkindern auch damals dem Standard der ärztlichen Ethik widersprochen hätten (http://www.br.de/nachrichten/v…s-an-heimkindern-100.html)?
12. Inwiefern kann nach Ansicht der Bundesregierung von einem Staatsversagen gesprochen werden, da den damaligen ethisch-medizinischen Grundsätzen nicht über Gesetze zu rechtlicher Verbindlichkeit verholfen und die Schutzpflicht des Staates gegenüber Probanden, hier insbesondere den Heimkindern, wahrgenommen wurde?
Die Fragen 11 und 12 werden aufgrund ihres Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet.
Es wird auf die Vorbemerkung der Bundesregierung verwiesen.
13. Hat die Bundesregierung Gespräche mit den ärztlichen Standesorganisationen darüber geführt, ob die Ärzteschaft – ggf. auch bei Vorliegen einer Verjährung und mangelnder Rechtsverbindlichkeit der standesrechtlichen Deklarationen – bereit ist, sich für die Teilnahme von Ärztinnen und Ärzten bei den Betroffenen und deren Angehörigen zu entschuldigen sowie sich an Entschädigungsleistungen zu beteiligen?
Auf der Grundlage des bisherigen Erkenntnisstandes hat die Bundesregierung hierüber keine Gespräche geführt.
14. Kann und will die Bundesregierung zur Aufklärung und ggf. auch zu einer Entschädigung der Heimkinder, die unfreiwillig zu Probandinnen und Probanden gemacht wurden, beitragen, selbst wenn arzneimittelrechtlich kein Verstoß vorläge, nach heutigen ethischen und moralischen Gesichtspunkten allerdings das damalige Handeln als verwerflich zu betrachten ist?
Falls ja, wie, falls nein, warum nicht?
Der RTH hat sich intensiv mit der Aufklärung des in Heimen der Jugendhilfe geschehenen Leids und Unrechts beschäftigt. Teil dieser Aufklärungsarbeit waren der Einsatz von Medikamenten bzw. Medikamentenversuche. Im Abschlussbericht des RTH heißt es dazu, dass trotz intensiver Bemühungen hierzu nur begrenzt Erkenntnisse gewonnen werden konnten, da der Runde Tisch von sich aus keine Forschung betreiben konnte und auf die Arbeit der Wissenschaft angewiesen war. Der RTH stellte fest, dass, wenn es im Rahmen der Heimerziehung zu generellen Behandlungen bzw. Sedierungen gekommen sei, die weniger den Kindern und Jugendlichen als der Disziplin im Heimalltag oder gar der Erforschung von Medikamenten zuträglich waren, dies als Missbrauch zu beurteilen sei und auch nach damaligen Maßstäben ggf. den Tatbestand der Körperverletzung erfülle (vgl. Abschlussbericht des RTH, Berlin 2010, S. 19 f.).
Der Deutsche Bundestag hatte die Erkenntnisse, Bewertungen und Empfehlungen des RTH in seinem Beschluss von 2011 (Bundestagsdrucksachen 17/6143 und 17/6500) übernommen und die Bundesregierung aufgefordert, in Abstimmung mit den betroffenen Ländern und den Kirchen entsprechende Hilfesysteme zu errichten. Mit Errichtung der Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ und „Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990“ wurde dieser Auftrag umgesetzt. Beide Fonds leisten Hilfen zur Abmilderung von Folgeschäden der Heimerziehung sowie zur Befriedung und Genugtuung. Dabei kommt es nicht auf die Art der damaligen Schädigung an.
15. Gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung vor nationalen und internationalen Gerichten anhängige Verfahren oder Entscheidungen zur Frage von Medikamentenversuchen an ehemaligen Heimkindern, und falls ja, bitte nach Möglichkeit die jeweiligen Gerichte, die verhandelten Sachverhalte und Aktenzeichen nennen?
Hierüber liegen der Bundesregierung keine Kenntnisse vor.
16. Was hat die Bundesregierung bislang unternommen, um diejenigen, an denen ohne ihre Einwilligung in Heimen Arzneimittel getestet wurden bzw. deren Angehörige zu ermitteln und zu informieren?
Auf die Ausführungen in der Vorbemerkung der Bundesregierung wird verwiesen.
17. Gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung für Betroffene konkrete Hilfen unabhängig von bereits bestehenden Fonds?
Falls ja, welche?
18. Bestehen nach Kenntnis der Bundesregierung Beschwerdestellen, an die sich die Betroffenen wenden können, oder ist es geplant, solche einzurichten?
19. Gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung nach aktuellem Recht Ansprüche, die betroffene ehemalige Heimkinder geltend machen können?
Die Fragen 17 bis 19 werden aufgrund ihres Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet.
Über die bestehenden Fonds hinaus liegen der Bundesregierung keine Kenntnisse vor.
Der RTH hatte im Jahr 2009 eine Info- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder eingerichtet, die u. a. mit persönlichen Anliegen ehemaliger Heimkinder befasst war und diesen bei der Vermittlung von Hilfeangeboten behilflich war. Nach Beendigung des RTH (im Jahr 2011) haben ab 2012 die Anlauf- und Beratungsstellen der Fonds Heimerziehung die Aufgabe der Beratung und Vermittlung von Hilfeangeboten (auch über die Fonds Heimerziehung hinaus) für ehemalige Heimkinder übernommen. Die Beratungs- und Hilfeangebote sind nicht auf bestimmte Themen wie z. B. Medikamenteneinsatz im Heim beschränkt, sondern umfassen alle Hilfe- und Unterstützungsbedarfe der Betroffenen. Die Beratungsangebote können auch von Betroffenen wahrgenommen werden, die die Voraussetzungen für den Erhalt finanzieller Leistungen aus den Fonds Heimerziehung nicht erfüllen, da sich die Beratungen auch auf mögliche Leistungen unabhängig von bereits bestehenden Fonds beziehen.
Je nach Einzelfall sind freiwillige Leistungen aus anderen Hilfesystemen, wie aus dem Ergänzenden Hilfesystem (EHS), d. h. dem Fonds „Sexueller Missbrauch im familiären Bereich“ oder dem „EHS – institutioneller Bereich“, möglich. Betroffene, die in dem Zeitraum der Jahre 1949 und 1975 (Bundesrepublik Deutschland) bzw. 1990 (ehemalige DDR) in Einrichtungen der Jugendhilfe Leid und Unrecht erfahren haben, konnten sich an einen der beiden Fonds Heimerziehung wenden und dort Hilfen zur Abmilderung von Folgeschäden erhalten.
20. Lösen nach Kenntnis der Bundesregierung die internationalen Konventionen über Folter unmittelbare Rechtsansprüche in Deutschland für die betroffenen ehemaligen Heimkinder aus?
Falls ja, aufgrund welcher Verträge und Konventionen?
Unabhängig von der Frage, ob im Einzelfall eine Folterhandlung vorliegt, verpflichtet Artikel 14 der UN-Antifolterkonvention die Mitgliedstaaten, in ihrer Rechtsordnung Rechtsbehelfe zur Wiedergutmachung vorzusehen, gewährt aber keinen direkten Anspruch. Die europäischen Rechtsinstrumente sehen gleichfalls keinen direkten Anspruch vor.
21. Welche Bemühungen von Seiten der Arzneimittelhersteller zur Aufklärung der Arzneimittelstudien und zur Information der Betroffenen sind der Bundesregierung bekannt, und welche Pharmafirmen, deren Medikamente unter ihrer Billigung oder Duldung in Heimen getestet wurden, haben sich nach Kenntnis der Bundesregierung bislang dazu bekannt und den Kontakt zu den Betroffenen gesucht?
22. Welche dieser Firmen haben nach Kenntnis der Bundesregierung ihre Archive geöffnet, um die Medikamentenversuche aufarbeiten zu lassen, und welche haben sich bei den Betroffenen entschuldigt bzw. sich zur Zahlung von Entschädigungen bereiterklärt (ggf. bitte Angaben zu deren Höhe machen)?
Die Fragen 21 und 22 werden aufgrund ihres Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet.
Hierüber liegen der Bundesregierung keine Kenntnisse vor.
23. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Art der Medikamente, die an Heimkindern getestet wurden, zum Anteil der Psychopharmaka daran, und welche Medikamente wurden getestet, die nicht bei Kindern hätten zum Einsatz kommen sollen?
24. Sind nach Kenntnis der Bundesregierung Fälle bekannt, bei denen auch Dosierungen verwendet worden, die für Kinder viel zu hoch waren und zum Teil sogar weit über denen für Erwachsene lagen, und falls ja, bitte nach Möglichkeit die verabreichten Präparate, den Zeitraum und die Anzahl der Fälle nennen?
25. Welche akuten und langfristigen körperlichen und psychischen Auswirkungen für die Betroffenen sind der Bundesregierung bekannt, und gab es nach Kenntnis der Bundesregierung auch Todesfälle im Zusammenhang mit Arzneimittelstudien?
Die Fragen 23 bis 25 werden aufgrund ihres Sachzusammenhanges gemeinsam beantwortet.
Auf die Ausführungen in der Vorbemerkung der Bundesregierung wird verwiesen. Über die Aussagen der in der von den Fragestellern zitierten Publikationen hinaus liegen der Bundesregierung keine Kenntnisse über die Anwendung von Arzneimitteln in der Heimerziehung vor.
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