Hallo Ginopilo und Axel Li.
Ja, Ihr habt Recht. Die Post, egal ob eingehend oder ausgehend, wurde "Zensurgelesen". Es hieß zwar vom Erzieher immer: "Lass mich mal Lesen ... Orthographie und Grammatik sollte schon richtig sein ... Bist ja kein Dummerjan ... Aber ich guck trotzdem mal". Es ging natürlich um den Inhalt des Briefes. Worte wie "sollen" und "müssen" durften nicht auftreten. Es wurde auch die "Wir- Form" gewünscht. "Wir machten das und das ... ".
Die Postleitzahl haben wir, meine Eltern und ich, schon 1979 recherchiert. 1134 war eine Postleitzahl von Ostberlin, mit dem Stadtteil Lichtenberg. Berlin- Charlottenburg lag zum damaligen Zeitpunkt in Westberlin. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Briefe aus dem Osten für den Osten über Westberlin versandt wurden. Ein weiterer Gedanke war bei uns, dass die Briefe aus den umliegenden Heimen zentral von einer Poststelle versendet wurden. Das muss ja nicht unbedingt der Ort des Heimes sein.
Nun ja, der Renke- Dennis ... er war für mich mein 3. Bruder. Im Heim verbrachten wir jede nur mögliche Minute zusammen. Außer beim Fussballspielen. Das war seine Leidenschaft. Meine jedoch nicht. Wir hockten den ganzen Tag zusammen, sobald es möglich war. Wir unterhielten uns und saßen auch öfter nur neben einander und schwiegen. Die Anwesenheit des Anderen hat uns gereicht, in einer Welt in der Alles, vom Aufstehen bis zum Zubettgehen, reglementiert war. Er erzählte mir alles über sein vorhergehendes Leben in seiner Familie. Und die war wirklich schlimm. Sie wollten ihn einfach nicht haben. Seine Verwandten sagten zu seinen Eltern: "Was wollt ihr mit diesem Balg ... schick' in fort ... in ein Heim ist er doch gut aufgehoben". Sein Verhalten war dementsprechend, so landete er auch in Sigrön.
Die Szene, als ihn seine Mutter im Heim abgab, ist mir tief ins Gedächtnis eingebrannt. Es war zur Mittagszeit. Wie saßen beim Mittagessen und seine Mutter kamen mit ihm durch den Speisesaal (der Zugang zum Heimleiterbüro führte durch den Speisesaal). Sie machte sich nicht einmal die Mühe das Heimleiterbüro zu betreten. Sie riss die Tür auf und rief "Hier ist er ... Er heißt Renke- Dennis ... Maches Sie was Sie wollen mit ihm ... Ich will ihn nie mehr wiedersehen". Dann drehte sie sich um, und ging wieder. Ich glaubte ein Lächeln auf den Lippen von Renke - Dennis gesehen zu haben. Er war froh nicht mehr im Elternhaus seien zu müssen.
Ich stand auf, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen, was man ja eigentlich hätte tuen müssen, und ging zur Essensausgabe. "Wir haben einen Neuen," sagte ich: "Wir brauchen noch ein einmal Mittagessen mehr." Die Küchenfrau, die diese Szene mit der Mutter miterlebte, schaufelte eine gehöhrige Portion Erbseneintopf in eine Essschüssel und legte zwei Bockwürste hinein (wir Anderen bekamen nur eine). Ich stellte sein Essen auf meinen Tisch (an meinem Tisch war noch ein Platz frei) und sagte ihm er solle sich hier hin setzen und essen. Mein Erzieher, der Herr Stellmacher, war sprachlos. Er konnte die Szene der Mutter und meine Reaktion nicht verarbeiten. Ab da an, waren wir Freunde.
Als ich dann nach der 5. Klasse in das Elternaus "zurückgeführt" wurde, flossen auch Tränen. Hätte ich die Wahl gehabt, wäre ich in Sigrön geblieben. Andererseits wollte ich auch wieder zu meinen Geschwistern und Eltern zurück. Aber ich glaube, dass hätte ich geopfert; aber ich hatte kein Mitspracherecht. Mit Worten: "Wir schreiben uns Briefe ... Wir sind ja nicht aus der Welt ... Irgendwann bist Du ja auch nicht mehr im Heim ... Wir werden uns wiedersehen ... " trösteten wir uns gegenseitig. Das waren unsere letzten gesprochene Worte.
In der 6. Klasse hatten wir regen Briefwechsel. Sein letzter Brief aus Sigrön endete mit den Worten: "Ich komme in ein anderes Heim. Meine Eltern wollen mich nicht mehr haben. Welches Heim es ist, weiß ich nicht. Ich will auch nicht mehr zu meinen |||||||||||| [Zensur] zurück. Ich werde Dir von dort aus weiter Schreiben. Liebe Grüße aus Sigrön, Renke- Dennis". Dann kam der eine Brief, der Kontakt und die Freundschaft wurde unterbunden.
Wenn ich jetzt wieder daran zurückdenke, verblutet mir mein Herz.
Meine Eltern haben über das "Referat Jugendhilfe" versucht, Renke- Dennis's Heim herrauszufinden. Sogar Freunde meiner Eltern die im "Rat des Bezirkes" und im "Rat des Kreises" zu tuen hatten, konnten keine Informationen bekommen. Die Verantwortlichen für diese Angelegenheit schwiegen. Ihre große "Ausrede" war: "Sie gehöhren nicht zur Familie des Betreffenden, wir geben daher auch keine Auskunft."
Liebe Grüße, Jahny.